Der Clown
Er saß wie jeden Abend auf seinem Schemel, starrte in den mit Glühbirnen umrahmten Spiegel und machte sich zum Abschminken bereit. Ihm schaute das müde Antlitz eines Clown entgegen. Ein Clown mit weißem Gesicht, breitem, lachendem rotem Mund, hochgezogenen Augenbrauen und drolliger Knollennase. Die Perücke mit dem roten Haarkranz, der zerknautschte Hut mit der großen Blume, die viel zu weite grünkarierte Hose mit den bunten Hosenträgern, das quergestreifte Leibchen, die weißen Handschuhe und die großen Gummiwatschelschuhe – sie alle vervollständigten das Bild.
Das ist ein fröhliches Bild! Nur die müden, langsamen Bewegungen verwischten den heiteren Eindruck ein wenig. Er streifte die Handschuhe ab, legte den Hut sorgfältig zur Seite und zog die Perücke herab. Darunter kam schlohweißes, dichtes Haar zum Vorschein. Dann entfernte er die drollige Knollennase und nun erinnerte nur noch der breite, rot geschminkte, lachende Mund an einen Clown. Er stülpte die Perücke über den Styroporkopf, bürstete den roten Haarkranz auf, zog die Watschelschuhe mit den gelben Schleifen aus und stellte sie neben den Schminktisch.
Jetzt konnte er mit dem Abschminken beginnen. Entschlossen schob er den großen Cremetiegel vor sich und bedeckte sein Gesicht mit einer dicken Schicht der fettig glänzenden Abschminkpaste. Er griff nach den Zellstofftüchern und begann, die Schichten der fast zentimenterdick aufgetragenen Schminke zu entfernen. Das war ein mühsames Unterfangen, denn das Gesicht unter der Maske war von zahlreichen tiefen Falten durchfurcht, die von einem langen und ereignisreichen Leben mit seinen Höhen und Tiefen gezeichnet waren.
Er war ein Clown, ein guter Clown, ein Clown aus Berufung, weil er die Menschen liebte, und ein Clown, dessen Kunst heute niemand mehr sehen will, über dessen Späße keiner mehr lacht und der nur noch als Pausenfüller beschäftigt wird. In den glanzvollen Tagen des Varietés war er eine herausragende Nummer gewesen, bestaunt, bejubelt und belacht von Millionen von Menschen. Ein musikalischer Clown mit akrobatischer Beherrschung seiner Instrumente und hinreißender Komik.
Er hatte die Gräuel zweier Kriege miterlebt, das Elend, die Nöte, Hoffnungslosigkeit und Grausamkeit, Kälte und Hunger. Und dennoch hatte er nie den Glauben an seine Berufung und die Menschheit verloren. Er war ein Clown, weil er den Menschen Lachen und Frohsinn schenken wollte. Und weil er wusste, dass sie das am dringendsten brauchten. Für ihn war es das Größte, die Menschen für vierzig Minuten aus ihrem Trübsal zu reißen, ihnen Muße, Entspannung und Fröhlichkeit zu schenken und sie ihre Sorgen und ihren Kummer vergessen zu lassen. Dann war er der glücklichste Mensch der Erde.
Die Schminke war weggewischt. Die alten, ach so alten, wässrig-trüben, tiefliegenden Augen spiegelten auch jetzt noch das große Herz jenes Wesens wider. Er stand in einer Welt, die er nicht mehr verstand und die ihn nicht verstand – wie ein Relikt aus einer längst vergessenen Zeit. Mit dem Humor von heute konnte er nichts anfangen. Dieser Humor besteht aus beißendem Spott, schonungslosem Bloßstellen, Lächerlich machen und geißelndem Hervorheben von Schwächen. Dabei werden Gefühle und edlere Triebe im Menschen verlacht, verstümmelt und brutal zunichte gemacht.
Er stand einer Welt gegenüber, die sich der Erniedrigung und Verächtlichmachung menschlicher Wesen verschrieben hatte, die jede Würde, Anstand und Respekt gegenüber sich selbst und anderen vermissen ließ. Dieser Welt stand er völlig rat und hilflos gegenüber. Eine Kunst, die in schreiender Vulgarität und geistigen Exkrementierungsorgien als einzige Botschaften ausartet, hatte er nichts entgegenzusetzen. Seine Kunst war anders, feiner, tiefsinniger, von einer schmunzelnden Ironie und sensibler Satire getragen und von brillanter Komik. Er war kein glänzender Harlekin mit einer wunderschönen Columbine, auch kein tragikomischer pantomimischer Pierrot und hatte auch nichts von Pulcinellos tölpelhafter Tollpatschigkeit.
Er war ein hochbegabter, sensibler Musiker, der seine innere Welt der Klänge und Töne, der Melodienbögen und Schlussakkorde in einzigartiger Weise nach außen tragen konnte. Er hat sich niemals des Lächerlich Machens anderer bedient. Die einzige Figur in seiner Darbietung, die lächerlich sein und zum Lachen reizen sollte, war er selbst – der Clown. Das war sein Beruf, dafür hatte er gelebt und gearbeitet.
Und heute stand er einem Publikum gegenüber, das die Fähigkeit zur Wahrnehmung seiner Kunst und feinfühligen Späße verloren hatte und zu dem er keinen Zugang mehr fand. Er erhob sich von seinem Schemel, legte das Clownskostüm ab, zog seinen abgetragenen alten Anzug an und schlüpfte in die tadellos geputzten Schuhe mit den schon schief getretenen Absätzen. Vor dem Verlassen seiner Garderobe wandte er sich noch einmal um und ließ die Lichter rund um seinen Spiegel verlöschen. Und wie so oft in den vergangenen Tagen dachte er, dass es nun auch für ihn an der Zeit wäre, dass die Lichter seines Lebens verlöschten und er im großen, glanzvollen Chapiteau des Himmels einkehren sollte. Dann schloss er ab und machte sich auf den Weg nach Hause.
In der schäbigen Pension und seinem billigen Zimmer angekommen, legte er sich aufs Bett und starrte träumerisch an die Decke. So viele Lieder, so viel Lachen und so viel Liebe waren noch in ihm, die er gerne verschenkt hätte, aber die niemand mehr haben wollte. Und während er so dalag, rollten die Tränen wie glitzernde Tautropfen langsam über sein altes, freundliches, gütiges Gesicht. Er zog die letzte Bilanz: "Ein alter Artist bricht sich den Hals, ein altes Pferd bricht sich die Beine, einem alten Clown bricht das Herz."