Nebel der Vergangenheit
Der 12-jährige Junge stand im Keller, vor der Standuhr seiner Oma. Sein Vater hatte sie gestern hier hingestellt, um das Pendel zu reparieren. Er war gelernter Uhrmacher und handwerklich sehr geschickt. Unten an der Kreuzung zur Hauptstraße führte er auch einen kleinen Laden. Als Oma noch jünger war, hatte sie ihrem Sohn im Geschäft ausgeholfen. So konnte er in Ruhe in seiner Werkstatt arbeiten. Seitdem sie jedoch im Rollstuhl saß, half ihre Tochter im Laden öfter aus. Im Laufe der Jahre wurden Omas Gehör und ihr Gedächtnis immer schlechter. Sie litt immer stärker an Demenz und ihre Tochter versorgte sie zwischendurch immer öfter mit Mahlzeiten und Medikamenten. Und sie begleitete ihre Mutter zu den Arztterminen.
Auch sein Opa litt an Altersdemenz und wohnte nun schon seit 4 Jahren im Alten-Pflegeheim. Sobald ihn die Familie besuchte und mit einem fröhlichen »Hallo Opa.« begrüßte, betrachtete er alle mit fragendem Blick.
»Wer sind Sie?« fragte er seine Tochter unfreundlich.
»Aber Papa. Ich bin es doch. Deine Tochter.«
Und dann schnauzte er sie wieder an: »Ich kenne Sie nicht. Was wollen sie von mir? Lasst mich in Ruhe!«
Sie fiel gleich wieder in depressive Stimmung und wollte den Besuch schon nach kurzer Zeit abbrechen. Ihr war natürlich stets bewusst, dass die Krankheit die Unfreundlichkeit ihres Vaters verursachte. Aber dennoch fiel es ihr immens schwer, damit klarzukommen. Ihr Mann konnte der Situation zwar gefasster entgegentreten. Während der Autofahrt nach Hause waren dennoch alle immer sehr nachdenklich und leise…
Nun stand der Junge also hier unten im Keller und betrachtete die Standuhr vor ihm. Er dachte an die bevorstehende Halloween-Nacht. Wahrscheinlich sollte er jetzt im Bett liegen und schlafen, aber irgendwie hielt ihn etwas davon ab.
»Was ist? Kannst du nicht schlafen?« sprach ihn sein Vater an und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er drehte sich zu ihm um und blickte zu Boden. Er murmelte: »Nein Papa, kann ich nicht. Oder noch nicht… Ich weiß es nicht genau.«
»Ich hätte da vielleicht eine Lösung.“ sagte der Vater und schob seinen Sohn ihn Richtung Kellertreppe. »Eine heiße Tasse Milch mit Honig hilft immer als Schlafmittel. «
Am nächsten Tag öffnete seine Mutter die Vorhänge einen Spalt breit, um ihn sanft aus dem Land der Träume zu holen.
»Du hast aber lange geschlafen.« lächelte sie, als er sie verschlafen anblinzelte. „Nun ist es schon beinahe mittags. Wenn du Papa noch bei der Standuhr helfen möchtest, dann musst du dich beeilen. Ein Kunde hat angerufen und trifft sich mit ihm um 1 Uhr im Laden.«
Er sprang sofort aus dem Bett, zog sich hastig an und wollte aus dem Zimmer stürmen. Seine Mutter zog ihn am Hemd zurück und sagte mit gespielter Strenge: „Um sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen, hast du aber schon noch Zeit.“
Also rannte er ins Badezimmer und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Dann fuhr er sich noch rasch mit der trockenen Zahnbürste über die Zähne und spuckte in das Waschbecken. Hätte seine Mutter das gesehen, hätte sie den Kopf geschüttelt und gefragt, was denn diese Katzenwäsche soll. Aber diesmal musste es halt reichen. Schließlich war er ja spät dran.
Als der Junge aus dem Bad kam, fragte er seine Mutter, ob er jetzt zu Papa gehen könne. Sie schob ihn mit einem leichten Klaps auf die Schulter Richtung Kellertür und er stürmte die Kellertreppe hinab. Sein Vater stand an der Werkbank und als sein Sohn neben ihn trat, ging er in die Hocke und sah ihn mit traurigem Blick an.
»Es tut mir leid Kumpel.« sagte er. »Ich muss mich mit einem Kunden im Laden treffen und dann mit ihm auch noch nach Köln fahren. Wir können die Standuhr erst reparieren, sobald ich wieder zurück bin.«
Der Junge schaute seinen Vater mit traurigem Blick an und nickte.
»Sei bitte nicht böse. Wir holen das nach. Versprochen.« versuchte er seinen Sohn zu trösten und drückte ihn fest an sich. Dann erhob er sich wieder und beide wandten sich der Standuhr zu. Dann strich er mit der Hand an der Seitenwand der Uhr nach oben und dann quer über den gewellten Aufsatz über der Glastür.
»Weißt du, ich habe das Gefühl, dass mit der Uhr irgendetwas nicht stimmt." sagte er leise murmelnd. »Auch wenn ich nicht genau sagen kann, was es ist. Aber da liegt irgendwie so eine seltsame Aura in der Luft.« Er ging zur Treppe und drehte sich am Weg nach oben um. »Was ist, kommst du nicht mit?«
Sein Sohn schüttelte den Kopf, ohne sich von der Standuhr abzuwenden und antwortete: »Gleich Papa. Ich komme gleich.« Nachdem sein Vater die Kellertür hinter sich geschlossen hatte, murmelte er: »Papa hat recht. Irgendetwas stimmt da mit dir nicht.«
Er drehte sich um und wollte gerade ebenfalls die Treppe hochsteigen. Plötzlich umhüllte eine leichte Nebelwolke schleichend seine Beine und schob sich langsam vor ihm die Treppe hoch. Er riss überrascht die Augen weit auf und drehte sich erschrocken um. Gleichzeitig fiel ihm eine leise Stimme auf.
»Das Kamel heißt Tunis. Das Kamel heißt Tunis.«
Er hörte eine Frauenstimme aus Richtung der Standuhr, die ihm seltsamerweise bekannt vorkam.
»Tunis das Kamel. Erinnere dich. Tunis das Kamel.«
Vor Schreck sprang er nach hinten und stieß hinter sich mit dem Fuß einen Werkzeugkoffer um. Der Koffer krachte gegen 2 große Flaschen mit Flüssigkeit und warf sie ebenfalls um. Panikartig rannte der Junge hastig die Treppe hoch, riss die Kellertür auf und knallte sie hinter sich mit dem Rücken zu. Dann rutschte er an der Tür nach unten und saß leise weinend auf dem Boden des Flurs. Seine Mutter war durch den Knall der Tür erschrocken und hastete von der Küche in den Vorraum. Und als sie sah, dass er zitternd und mit blassem Gesicht am Boden kauerte, umarmte sie ihn, strich über seinen Kopf und summte beruhigend sein Lieblingslied.
» La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen. Drum schlaf auch du.«
Wenn es ihr selbst nicht gut ging, tröstete ihre Mutter sie auch so.
Ihr Sohn beruhigte sich nach einigen Minuten wieder und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Er erzählte seiner Mutter von dem Erlebnis im Keller und sie blickte ihn ungläubig an. »Und du bist dir sicher, dass du dir das nicht nur eingebildet hast?«. Sie zog ihn hoch und sah ihm in die Augen. »Da unten stehen doch so viele Sachen herum. Und man hört auch viele Geräusche. Von der Heizung oder auch den Lärm, der von der Straße kommt.«
»Mama, ich weiß doch, was ich gesehen und gehört habe. Die Standuhr kann sprechen. Komm mit und ich beweise es dir.«. Dann öffnete er die Kellertür und zog seine Mutter an der Hand die Treppe abwärts.
„Also für mich, sieht die Standuhr aus, wie eben eine gewöhnliche Standuhr so aussieht.“. Er stand nun mit erstauntem Gesicht ganz nahe neben seiner Mutter. Da war kein Nebel mehr. Und auch die nette Stimme war nicht mehr zu hören. Sie trat näher an die Uhr heran und legte eine Hand an das Holz. Dann lächelte sie und sagte: „Komm, wir gehen essen, ich habe Hunger.“
Völlig verwirrt folgte der Junge seiner Mutter die Treppe hoch. Hatte er sich das vielleicht doch nur eingebildet? Nachdem er die Kellertür hinter sich schließen wollte, warf er noch einen kurzen Blick nach unten. Er sah verschwommen den Nebel aus der Uhr schweben und hörte ganz leise die vertraute Stimme wieder. »Tunis das Kamel. Erinnere dich. Tunis das Kamel.«. Dann schloss er sanft die Tür zum Keller.
Als er dann spät am Abend in seinem Zimmer am Bettrand saß, grübelte er vor sich hin. »Woher kam bloß der Nebel? Und wem gehörte diese Stimme? Kam die mir nicht irgendwie bekannt vor? Und was hatte sie gesagt? Tunis das Kamel?«
Plötzlich sprang er mit einem Schwung vom Bett auf und stürzte zur Kommode. Er riss die unterste Lade auf und zog ein dickes Fotoalbum seiner Großeltern heraus. Viele der Bilder waren an diversen Urlaubsorten entstanden. Als sie mit der kleinen, lustigen Strandbahn in Cuxhaven am Meer entlangfuhren. Oder hier, als sie in Tunesien auf einem Kamel saßen und fröhlich in die Kamera strahlten. Während er sich Seite für Seite die Bilder ansah, rollten ihm erste Tränen über die Wangen. Er strich mit der Hand sanft über ein Bild, dass seine Großeltern und ihn fröhlich lachend, mit einer Eistüte in der Hand am Strand von Baltrum zeigte.
Plötzlich erstarrte er. Mit einem Schlag wurde ihm klar, was er da heute am Nachmittag im Keller erlebt hatte. Er blickte zur Uhr und erschrak. Es war schon kurz vor Mitternacht. Dann klemmte er sich das Fotoalbum unter den einen Arm und griff sich seine kleine Taschenlampe. Er schaltete das Deckenlicht aus und öffnete ganz leise und vorsichtig seine Zimmertür. Als er mit schleichenden Schritten den Flur betrat, versuchte er, den knarrenden Stellen am Parkett auszuweichen. Leise schloss er die Kellertüre hinter sich und stieg, nachdem er das Licht seiner Taschenlampe angemacht hatte, vorsichtig die Treppe hinab. Er legte das Fotoalbum vor die Standuhr und blätterte zu dem Bild, das auf Baltrum gemacht wurde.
Als seine Hand wieder ganz zart über das Foto strich, kroch feiner Nebel unter der Glastür der Uhr hervor. Doch nun hatte der Junge keine Angst mehr. Er wusste jetzt, was es mit dem Erlebnis auf sich hatte. Der Nebel konnte nur seine Verbindung zur Vergangenheit sein. Und die nette Stimme hatte seiner Großmutter gehört. Als er die Taschenlampe anhob und durch das Glas der Tür in die endlos scheinende Tiefe der Uhr starrte, sah er plötzlich zwei schemenhafte Gesichter vor sich. Sie strahlten ihm lächelnd entgegen.
»Sehr gut, wir sind sehr stolz auf dich. Du hast sehr schnell und allein herausgefunden, worum es geht.« hörte er nun wieder die angenehme Stimme seiner Großmutter.
»Sei bitte nicht traurig, mein junger Freund, dass wir nicht mehr mit dir in den Urlaub fahren können. Aber wir sind nicht nur aus diesem Grund hier. Wir sind auch gekommen, um dir zu helfen die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis zu rufen.«, meinte nun die tiefe, warme Stimme seines Großvaters. Der Junge schrie auf und umarmte die Standuhr. So als würde sein Großvater selbst vor ihm stehen.
»Was seid ihr? Gespenster?« fragte er nach einer Weile.
»Nein mein Schatz. Wir sind deine eigene Erinnerung.« sagte seine Großmutter. »Du hast uns selbst gerufen.«
Nun fiel ihm auch auf, dass seine Großeltern hinter der Glastür deutlich jünger aussahen, als sie es heute tatsächlich waren.
»Wir wissen, dass es dich sehr schmerzt, dass wir mit dir nicht mehr Zeit verbringen können. Daher haben wir deinen Papa diese Standuhr in den Keller bringen lassen. So konnten wir dir helfen, die gemeinsame Zeit wieder in Erinnerung zu rufen.« fuhr die Stimme seines Großvaters fort.
Der Junge hockte sich vor dem Album auf den Boden und versank gedankenverloren in die gemeinsame Zeit des Urlaubs mit seinen Großeltern. »Danke, dass ihr mir die schöne Zeit in Erinnerung gebracht habt.« sagte er. »Allein hätte ich es nicht geschafft. Ich wäre sicher noch tiefer in den Schmerz der Sehnsucht gerutscht.«
Die Großeltern schauten sich an und mussten schmunzeln. Das Gesicht der Großmutter wandte sich ihm wieder zu und sagte lächelnd: „Mein Junge. Du selbst hast dir die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis gerufen. Wir haben dir nur einen, sagen wir mal leichten Schubs in die richtige Richtung geben können. Wie schon gesagt, sind wir nur deine eigene Erinnerung an die Vergangenheit.«
Langsam verstand er und nickte seinen Großeltern dankbar zu.
»Eine Sache noch, bevor wir gehen.« sprach sein Großvater. »Egal wie sehr dich etwas quält, mein Freund. Deine Familie und Freunde, wir sind immer für dich da!«
Nach dem letzten Wort verschwanden plötzlich die schemenhaften Gesichter seiner Großeltern. Und auch der wellenartige Nebel am Boden verzog sich. Jedoch nicht zurück in das Innere der Standuhr, sondern direkt in das Fotoalbum.
Exakt in jenes Urlaubsbild, das auf Baltrum aufgenommen worden war. Er beugte sich weiter nach vor und leuchtete mit seiner Taschenlampe darauf. Da erkannte er, dass nun auch seine Eltern im Hintergrund des Bildes zu sehen waren. Sie winkten ihm fröhlich zu und blickten dem Jungen mit großem Stolz direkt in die Augen.
Artikel veröffentlicht am 31. Oktober 2022 auf https://martinkrefta.de/2022/10/der-nebel-der-vergangenheit