Directly jump to the content and enable reader mode
Im Vordergrund des Bildes sitzt ein junger Mann Anfang zwanzig in einem schwarzen Rollstuhl direkt an einem hellen Fenster. Er hat hellbraunes, mittellanges, leicht gewelltes Haar, eine helle Haut und einen ruhigen, konzentrierten Blick. Er trägt ein schlichtes, türkisgrünes T-Shirt und beigefarbene Hosen. Seine Hände liegen auf der Tastatur eines silberfarbenen Laptops, der auf seinem Schoß steht. Durch das Tageslicht, das von rechts durch das Fenster fällt, ist sein Gesicht klar beleuchtet. Hinter ihm, leicht durchscheinend wie eine Erinnerung oder ein Gedanke, erscheint ein zweites Bildmotiv: Derselbe junge Mann ist in der Haltung eines Bogenschützen dargestellt. Er steht in einem lichten Wald mit aufgerichtetem Oberkörper, gespanntem Bogen und zielgerichtetem Blick. Seine Kleidung – ein olivgrünes Langarmshirt – und der Köcher mit roten Pfeilen am Gürtel sind deutlich zu erkennen. Der Hintergrund wirkt weich und grünlich gefiltert, wodurch er wie ein inneres Bild – eine Vorstellung oder eine Erinnerung – erscheint. Diese Überlagerung suggeriert, dass der junge Mann im Rollstuhl an seine frühere Zeit als aktiver Bogenschütze denkt. Das Bild vermittelt auf subtile Weise eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen körperlicher Einschränkung und geistiger Stärke.

have read aloud


Reading time: about 51 min Print version

Jonas lebt

Author: Martin Krefta und Tom Nentwich

1.

 Als Jonas die Fingerspitzen der rechten Hand am Wangenknochen, dem sogenannten Ankerpunkt, spürte, stand er bereits in Anhebeposition. Zuvor hatte er die Leitfeder des Pfeils in die Sehne geschoben, ihn oberhalb des Handballens der linken Hand auf den Bogen gelegt und mit dem Zeigefinger fixiert. Dann fasste er er die Sehne mit Zeige- Mittel- und Ringfinger. Er hatte etwa 2 cm vorgespannt und die Arme langsam angehoben, bis der rechte Ellbogen horizontal auf Höhe seines rechten Ohres war. Dann hatte er die Sehne bis zur Wange an den Ankerpunkt zurückgezogen. Er visierte das Ziel an und schloss die Augen, um die Anspannung in innere Ruhe überzuleiten. Nachdem er sie wieder öffnete, blickte Jonas kurz nochmals zur Zielscheibe und ließ die Finger der rechten Hand nach hinten über die Wange streichen. Die gelöste Sehne schnalzte vor und drückte den Pfeil energiegeladen vom Bogen. Der Pfeil löste sich und schoss von einem surrenden Ton begleitet in leicht ansteigender Flugbahn über die Wiese. Etwa nach zwei Dritteln der Distanz zur Zielscheibe senkte er sich ein wenig ab, um kurz danach mit einem satten Schlag genau im innersten Kreuz des gelben Mittelpunkts einzuschlagen. Die Energie des Einschlags übertrug sich auf den Pfeil und er vibrierte kurz vom Mittelteil zurück bis zur Feder.

Während er den Bogen wieder absenkte, wandte sich Jonas mit starrem Blick nach rechts zu den bronzefarbenen Gedenktafeln an der Wand des Vereinshauses. Ganz links war eine goldglänzende Tafel montiert. »Jan Faar, 1967-2012« und darunter waren noch der Gruß »Alle ins Gold« sowie Jans Erfolge eingraviert. Mit steinerner Gesichtsmine verstaute Jonas Pfeil und Bogen im Köcher, ging in das Vereinshaus und öffnete Jans ehemaligen Vereins-Spind. 
Schon Jahre zuvor durfte Jonas mit seinen 13 Jahren für zwei Wochen ein Feriencamp in Trendelburg besuchen. Seine Eltern brachten ihn am frühen Vormittag zum Kölner Busbahnhof in der Franz-Liszt-Straße und etwa drei Stunden später traf der große Reisebus mit Jonas und weiteren 54 Schulkindern am großflächigen Parkplatz des Hofguts Stammen ein. Die mittelalterlich wirkenden, behutsam instand gesetzten Gemäuer des Ferien- und Urlaubscamp bildeten einen großen Innenhof. Und überall in der weitläufigen Umgebung waren Wiesen, Bäume und Gewässer zu sehen. Jonas fühlte sich schon wohl, als er aus dem Bus stieg. Und er war sich vom ersten Moment an sicher: Hier würde er auf jeden Fall interessante und spannende Ferien verbringen können.

Gleich nach dem Mittagessen im Speisesaal wurden die Kinder durch Jörg Valtingojer, den Besitzer des Feriencamps, begrüßt. Nachdem er ihnen kurz über das Camp erzählt hatte, übergab er das Mikrofon der Reiseleiterin. Sie war an der Schule die Turnlehrerin. Neben ihr standen weitere vier Männer und eine Frau.

»Liebe Kinder. Auch ich freue mich, dass wir nun hier in diesem tollen Feriencamp zwei Wochen verbringen dürfen.« Sie wies mit der Hand durch ein Fenster über den Innenhof und fuhr fort. »Da drüben sind die Unterkünfte. In jedem der Zimmer sind 3 Doppelstockbetten. Ich rufe nun jeden von euch einzeln auf und ihr bekommt eine Mappe, in der ihr alle notwendigen Informationen findet. Wir werden viel Zeit gemeinsam verbringen. Ausflüge, Spiele, Veranstaltungen und so weiter. Ihr habt aber auch noch zusätzlich die Möglichkeit, euch für besondere Aktivitäten anzumelden. So könnt ihr zum Beispiel Tagesausflüge mit einem Kanu machen, Schach spielen, Specksteine bearbeiten oder Mountainbiken. Und wer mag, kann Bogenschießen lernen oder sogar ein Floß aus Holz bauen und damit dann den See überqueren.«

Zwei Mädchen, vier Buben und Jonas trafen sich drei Tage später gleich nach dem Frühstück hinter dem Hauptgebäude des Camps. Hier war ein großer Holzboden aufgelegt, und in der Wiese standen in verschiedenen Abständen zum Podest drei bunte Zielscheiben schräg aufgestellt. Schon am Vortag hatte sich Jonas die Mappe mit den Unterlagen genau durchgesehen und sich für das Bogenschießen entschieden. Er war sich sicher, dass hier Konzentration, Besonnenheit und vor allem innere Ruhe im Mittelpunkt stehen würden. Und es war ihm klar, dass sie sich im Freien aufhalten würden. Als nun einer der vier Betreuer um die Ecke kam, begrüßte er die 7 Teilnehmer. »Moin Leute, mein Name ist Jan und ich darf euch das Bogenschießen beibringen.« Der Trainer hatte einen Handwagen hinter sich hergezogen und übergab jedem einen Köcher, in dem ein Bogen und mehrere Pfeile steckten. Gegen Mittag hatte er ihnen dann alles soweit erklärt und beigebracht, dass sie bereits selbstständig die Zielscheiben beschossen. Natürlich unter Berücksichtigung sämtlicher Sicherheitskriterien. Nachmittags brachte ihnen Jan dann auch noch übliche Gruppenbildungen des Bogensports sowie die offiziellen Wettkampfregeln näher.

Am nächsten Tag waren es nur noch fünf Teilnehmer, die sich für das Bogenschießen interessierten. Jonas zeigte von Beginn an die höchste Trefferquote und konnte rascher als die anderen perfekt mit Pfeil und Bogen umgehen. So erkannte Jan auch, dass der Junge offensichtlich verstärktes Interesse zeigte und auch eine besondere Begabung für den Bogensport hatte.

»Du, Jan«, sprach ihn Jonas dann am späten Nachmittag an. Als schon alle anderen gegangen waren, saßen die beiden noch auf der Kante des Holzbodens. »Ich hätte da mal ein paar Fragen.«

»Gerne. Schieß los.«

»Seit wann machst du das Bogendings schon?«

»Tja, mein Vater war Vorsitzender des Kölner Klub für Bogensport e.V. und da bin ich natürlich mit aufgewachsen. Ich habe den Verein dann übernommen. Also ich würde mal sagen, schon so etwa seit einigen Wochen«, antwortete er lachend.

»Was? Du bist aus Köln?«, fragte Jonas erstaunt weiter.

»Ja, sicher. In den Ferien betreue ich hier im Feriencamp die Bogensportkurse. Und sonst arbeite ich als Trainer im Kölner Bushido-Fitnesscenter. Das in der Mittelstraße kennst du vielleicht? Aber warum fragst du?«

»Also ich bin voll begeistert vom Bogenschießen. Und ich würde das gerne auch machen, wenn ich wieder zu Hause bin.« Damit war die Basis für Jonas neues Hobby, den Bogensport sowie die langjährige Freundschaft zwischen ihm und Jan gelegt.

 Gleich nachdem er wieder nach Hause zurückgekehrt war, erzählte Jonas seinen Eltern von seiner neuen Leidenschaft und die Familie besuchte kurz darauf den Kölner Bogensportverein in der Venloer Straße. Er wurde sofort Mitglied und besuchte die Grundkurse sämtlicher Bogensportarten Recurve, Compound, Lang- und Instinktivbogen. Jan erkannte die leidenschaftliche Begabung und betreute Jonas fortwährend im intensiven Training. Er gewann im Laufe der Zeit nahezu jeden Wettbewerb und wurde einer der besten Schützen des Vereins. Aber es war nicht nur der Bogensport, der die beiden verband. Sie fanden auch in anderen Bereichen zueinander. Jonas Mutter Silvia konnte den Kölner Klub für Bogensport in der Betreuung der Homepage unterstützen. Und Jan konnte Jonas im Schulfach Englisch nachhelfen. In den Folgejahren entwickelte sich zwischen den beiden eine anhaltend feste Freundschaft. Dann kam es zur Katastrophe ...

Schon als Jonas noch die 8. Klasse des Gymnasiums, die sogenannte Untertertia, besuchte, war der gesamten Familie bewusst, dass er mit Sicherheit später auch noch studieren wird. Seine schulischen Leistungen lagen weit über dem Durchschnitt und er unterstützte seine Mitschüler durch Nachhilfeunterricht. Auch die gesamte Lehrerschaft erkannte seine Begabung relativ rasch. Bis auf wenige Ausnahmen erreichte Jonas stets die höchste Punktzahl und wurde auch zum Schulsprecher gewählt. Bereits mit 17 Jahren konnte er Ende 2014 aufgrund einer entsprechenden Sonderaufnahmeprüfung sein Studium an der Universität Köln beginnen. Den Bachelor in Informatik hatte er am Gymnasium bereits mit der Note 1,4 abgeschlossen. Obwohl er einen ausgeprägten Sinn für Natur und Umwelt hatte, entschied sich Jonas in Absprache mit seinen Eltern letztendlich dennoch für das Studium an der Kölner Uni am Albertus-Magnus-Platz, um nach dem Studiengang Informatik seinen Titel »Master of Science« abschließen zu können. Bereits kurz nach dem Studienbeginn ergriff Jonas die Gelegenheit und übersiedelte aus der elterlichen Wohnung in das Studentenwohnheim Herkules in der Liebigstraße. Nachdem für ihn der Bogensport nun schon seit vielen Jahren die prägendste Freizeitbeschäftigung war und er auch die Leitung des Bogensportklubs aktiv unterstützte, lag die Wohnung ideal. Mit dem Fahrrad konnte er binnen 15 Minuten in der Uni und auch innerhalb von 23 Minuten am Vereinsgelände sein.

2. 

Als Jonas aus der Bewusstlosigkeit erwachte, war er zunächst vollkommen verwirrt. Alles um ihn herum war verschleiert, so als ob er in einer dicken Nebelwolke schweben würde. Er versuchte, sich zu orientieren, jedoch war sein gesamter Körper vollkommen unbeweglich. Seine Beine, die Arme, die Brust, alles war steif wie in Beton gehüllt. Nicht einmal den Kopf konnte er zur Seite drehen. Lediglich die Augen und sein Mund schienen noch beweglich zu sein. Über sich konnte er durch den dichten Nebelschleier hindurch eine Lichtquelle erkennen. Und als er schräg nach links blickte, nahm er schemenhaft die Umrisse einer Person wahr, die neben seinem Kopf saß und einen runden Gegenstand in der Hand hielt. Nun wurde Jonas klar, dass er offensichtlich flach am Rücken auf einem Tisch oder so ähnlich lag. Als er versuchte zu sprechen, bemerkte er, dass da wohl eine transparente Maske mit Schlauchanschluss über seinem Mund und Nase lag. Plötzlich hörte er dumpf, aber dennoch lautstark das sirenenartige Aufheulen eines Martinshorns und spürte die Beschleunigung. Mit einem Schlag war nun der Nebel, der ihn umhüllt hatte, verschwunden und Jonas wurde klar, wo er sich befand. In einem Rettungsfahrzeug. Man hatte ihn in eine Vakuummatratze gepackt und auf einer Tragbahre festgeschnallt. Und neben ihm saß ein Sanitäter, der besorgt zu ihm herübersah. Mit einem Mal schoss es Jonas durch den Kopf, was passiert war.

Nach seinem letzten Uni-Vortrag am Nachmittag zog er sich zu Hause um, schnappte seinen Köcher-Rucksack mit der Bogen-Ausrüstung und fuhr mit dem Fahrrad auf das nahe Übungsgelände. Vom Vereinsgebäude aus konnte man gleich neben dem Einschußplatz, einem kurzen Spazierweg bis zum Einstiegspunkt des Parcours zum Feldbogenschießen folgen. Auf dem etwa 3 km langen Naturpfad fand man seitlich im Gelände 12 Stationen mit verschiedenen Tieren. Natürlich keine echten, sondern naturgroße, mit Füllmaterial ausgestopfte Modelle, die jeweils in oder nahe einer Baumgruppe standen. Jonas war ja nun bereits viele Jahre Mitglied im Bogenschützenverein der Uni und hatte den Parcours schon oftmals begangen. Heute war er allein unterwegs, um sich nochmals auf den kommenden Gruppenwettbewerb am Wochenende vorzubereiten. Er beherrschte die Methode der Entfernungsbestimmung perfekt und hatte alle bisherigen Ziele mit der höchsten Punktezahl getroffen. Das sechste Zielobjekt war das ungewöhnliche Modell eines Nashorns. Es stand in etwa 33 m Entfernung zwischen jungen Bäumen und hatte seitlich eine 60 cm-Zielauflage montiert. Mit dem ersten Schuss traf Jonas lediglich den dritten Innenring der Zielscheibe und wechselte seine Position etwa 3 Meter nach rechts, um den Lichteinfall der untergehenden Sonne besser nutzen zu können. Er legte den Pfeil an den Bogen, spannte ihn vor und hob ihn an. Auf Augenhöhe spannte er den Bogen durch und visierte das Zentrum der Nashorn-Zielscheibe an. Nach wenigen Sekunden war er sicher, die richtige Position erreicht zu haben, und löste die Finger der linken Hand. Im gleichen Moment sprang hinter dem Modell des Nashorns ein lebender Hase hervor und Jonas zuckte erschrocken zusammen. Dadurch änderte sich die Flugbahn des Pfeils, er streifte den Rücken des Nashorns und verschwand zwischen den Bäumen. Nachdem er den Schreckmoment überwunden hatte, schleuderte Jonas den Sportbogen wütend zur Seite und lief sofort zwischen den Bäumen hindurch nach vorne in den Wald, um den verschossenen Pfeil zu suchen. Jetzt hatte er ja noch in Erinnerung, wo dieser gelandet sein müsste. Einige Meter hinter dem Modell des Nashorns lag durch das Laub bedeckt ein dicker, abgebrochener Baum mit einigen quer zur Laufrichtung abstehenden Ästen. Und Jonas übersah ihn. Er blieb mit dem linken Fußrücken daran hängen, der rechte Fuß rutschte unter den Baumstamm und Jonas stürzte mit voller Wucht, ohne sich mit den Händen abfangen zu können. Als er am Boden aufschlug, schoss ihm bereits durch den Kopf, dass das rechte Bein gebrochen sein würde. Nicht nur, dass er den Knochenbruch über den ganzen Körper spürte, schoss ihm der Schmerz auch explosionsartig bis ins Gehirn. Im gleichen Moment hatte ihn auch schon die Schwärze der Bewusstlosigkeit eingehüllt.

Als dem Sanitäter aufgefallen war, dass Jonas aufwachte und sich panikartig umsah, stand er auf und neigte sich über ihn, um ihn anzusprechen. »Hallo Jonas. Verstehen Sie mich?« Er starrte dem Mann in die Augen und stieß ein röchelndes »Ja« hervor.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind in Sicherheit. Wir bringen Sie ins Krankenhaus.« Dann warf er einen Blick auf den angeschlossenen Patientenmonitor. Als Jonas geantwortet hatte, waren die Werte des Blutdrucks und der Herzfrequenz nach oben geschossen. Mit einem Handgriff erhöhte der Sanitäter die Dosis des Beruhigungs- und Schmerzmittels und Jonas verfiel wieder in den medizinischen Tiefschlaf.

Drei Wochen später saßen Jonas Eltern dem Leiter der orthopädischen Abteilung bereits gegenüber, als sich die Tür öffnete und ihn eine Krankenschwester im Rollstuhl an den Tisch schob. Er trug ein dunkelgraues T-Shirt und schwarze Boxershorts. Sein rechtes Bein war bis über den Oberschenkel eingegipst und am Rollstuhl hochgelagert.

Der Arzt hatte schon vor dem Termin auf dem an der Seitenwand montierten Großraum-Computermonitor drei Röntgenaufnahmen aufgerufen und Jonas Krankenakte vor sich ausgebreitet. Nachdem er auch ihn begrüßt hatte, sprach er nun alle drei an. »Wie Sie ja nun bereits wissen, hatte der Unfall gleich drei Frakturen zur Folge.« Er wandte sich den Röntgenbildern zu und wies mit einem ausgeschobenen Zeigestab auf die Bruchstellen. »Wir haben die Knochenbrüche, soweit es ging, wieder in Position gebracht und durch eine geschraubte Osteosynthese verbunden. Das sind diese Schraubverbindungen hier.« Nun hatte er die Bilder gewechselt und zeigte auf mehrere, weiß leuchtende Streifen, die quer durch die Abbildung des Beines verliefen. »Mit der Zeit wird sich dann im Verlauf des Heilungsprozesses noch herausstellen, ob die Schrauben wieder entfernt werden müssen oder bleiben können.«

Jonas starrte entgeistert auf den Monitor und wandte sich dann dem Arzt zu. »Herr Doktor, ich verstehe das nicht. Wie konnte das überhaupt passieren? Ich meine, wieso kann das sein, dass ich mir zweimal das Schienbein und dann auch noch den Oberschenkelknochen gebrochen habe? Das war doch nur ein normaler Sturz.«

Nun sah der orthopädische Oberarzt Jonas direkt in die Augen und sagte zu ihm mit bedauerndem Gesichtsausdruck: »Jonas, wir haben inzwischen auch noch weitere Untersuchungen durchgeführt. Unter anderem auch eine Kollagenanalyse des Bindegewebes. Sie leiden an Osteogenesis imperfecta. Das ist die Glasknochenkrankheit.«

3. 

Noch bevor Jonas im Oktober 2016 die erste Abschlussprüfung an der Uni ablegen konnte, begannen sich aufgrund seiner unheilbaren Erkrankung die körperlichen Einschränkungen zu verstärken. Die Tage, die einst von Vorfreude auf die Zukunft geprägt waren, waren nun in Schmerz und Frustration getränkt.

An einem kalten Morgen versuchte er sich aus dem Bett zu heben. Ein stechender Schmerz durchzuckte sein Bein, und er konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. »Verflucht noch mal!«, schrie er schmerzerfüllt auf. Seine Hände zitterten, als er sich an der Bettkante festhielt.

Sein Mitbewohner Alex eilte besorgt ins Zimmer. »Jonas, alles okay bei dir?«, fragte er, während er Jonas stützte.

Jonas versuchte zu lächeln, aber seine Augen verrieten die Pein. »Nur ein kleiner Sturz, nichts Ernstes.«

Die einfachsten Aufgaben, wie das Anziehen oder das Gehen zur Vorlesung, wurden zu einer täglichen Herausforderung. Seine Freunde und Kommilitonen bemerkten die Veränderung und boten ihre Hilfe an, doch Jonas wollte niemandem zur Last fallen.

»Du musst nicht alles allein machen, Jonas«, sagte Alex eines Tages, als er beobachtete, wie er sich mühsam die Schuhe zuband.

»Ich will einfach nur normal sein, Alex. Ist das zu viel verlangt?«, erwiderte Jonas mit Tränen in den Augen. »Verflucht noch mal!«, schrie er schmerzerfüllt auf.

Da das alltägliche Verletzungsrisiko zu hoch war, musste Jonas sein Studium abbrechen. Die Entscheidung fiel ihm schwer, denn er hatte sich so sehr auf seine Karriere in der Wissenschaft gefreut. Doch die ständige Angst vor Verletzungen und den damit verbundenen Schmerzen machten es ihm definitiv unmöglich, sich auf das Studium zu konzentrieren.

Eines Abends saß er mit seinen Eltern am Küchentisch, umgeben von Büchern und Notizen. Seine Mutter legte sanft ihre Hand auf seine. »Jonas, wir wissen, wie viel dir das Studium bedeutet, aber deine Gesundheit ist wichtiger.«

Jonas nickte, die Enttäuschung in seinem Gesicht kaum verbergend. »Ich weiß, Mama. Es ist nur ... Ich hatte so viele Pläne.«

Sein Vater lächelte traurig. »Pläne ändern sich, mein Junge. Wir finden einen anderen Weg.«

»Es ist besser so«, sagte Jonas leise, während er seine Bücher und Notizen in Kartons verpackte. Seine Eltern unterstützten ihn in seiner Entscheidung und versprachen, gemeinsam nach einer Alternative zu suchen. Jonas war enttäuscht, aber auch erleichtert, dass er sich nun auf seine Gesundheit konzentrieren konnte. Und er musste sich entschließen, auch sein Hobby, das Bogenschießen aufzugeben. Natürlich hätte er sich künftig barrierefreien Wettkämpfen zuwenden können. Er hätte im Rollstuhl an sogenannten »Special-Events« auf festem Untergrund und unter Dach teilnehmen können. Aber er hatte schon immer Veranstaltungen in der Natur bevorzugt. Bogenschießen im Freien und auf 3-D-Parcours. Im Rollstuhl wäre das jedoch anhaltend mit groben Schwierigkeiten verbunden. Abgesehen davon würde sich Jonas ständig mit seiner körperlichen Einschränkung konfrontiert sehen. Also entschied er sich schweren Herzens, durch eine offizielle Mitteilung an den Verein, von seinen Vereinsfunktionen zurückzutreten und die Mitgliedschaft zu kündigen.

Die Sonne stand tief am Himmel und tauchte die Straße vor dem Elternhaus in ein warmes, goldenes Licht. Jonas sah aus dem Taxi-Fenster auf das vertraute Einfamilienhaus. Er konnte es kaum glauben, dass er wieder hier war, in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.

»Willkommen zu Hause«, begrüßte Silvia ihren Sohn liebevoll, nachdem sie die schwere Eingangstür geöffnet hatte. Ihr Blick war voller Sorge, aber auch von einer tiefen Liebe geprägt. Hinter Jonas schloss sich summend die Schiebetür des Liftes, und er erhob sich zögernd aus dem Rollstuhl. »Mum, ich möchte meine neue oder eigentlich meine alte Heimat zu Fuß betreten«, sagte Jonas entschlossen, während er sich an der Tür festhielt. Seine Stimme zitterte leicht, aber in seinen Augen lag eine unverkennbare Entschlossenheit. »Ja, gerne, Jonas. Warum nicht?« Silvia trat hinaus auf den Gang, löste die Bremsen des Rollstuhls und schob ihn behutsam hinter ihrem Sohn her. Sie konnte den Stolz in seinen Augen sehen und wusste, dass dieser Moment für ihn von großer Bedeutung war.

In den darauffolgenden Monaten erwies sich die psychische Belastung für die ganze Familie als enorm. Jonas verbrachte seine Tage damit, nach Jobs zu suchen, aber trotz seiner Qualifikationen und seines unermüdlichen Einsatzes blieb der Erfolg aus. Die Räume des Hauses, die einst von Lachen und Freude erfüllt waren, wurden nun von einer bedrückenden Stille beherrscht.

 Eines Abends, nach einem weiteren erfolglosen Vorstellungsgespräch, saß Jonas in seinem Zimmer und starrte auf die Absagen, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Die Wände schienen auf ihn einzustürzen, und er fühlte sich erdrückt von der Last seiner eigenen Hoffnungslosigkeit. Unten in der Küche saßen Silvia und ihr Mann Fabian am Esstisch. Die Spannung zwischen ihnen war fast greifbar. Silvia spielte nervös mit ihrem Besteck, während Fabian die Zeitung las, ohne wirklich die Worte zu sehen. »Fabian, wir müssen reden«, begann Silvia zögerlich. »Es geht um Jonas. Er ist so niedergeschlagen, und ich mache mir Sorgen um ihn.«

Fabian seufzte und legte die Zeitung beiseite. »Ich weiß, Silvia. Aber was können wir tun? Er ist erwachsen. Wir können ihn nicht zwingen, Hilfe anzunehmen.«

»Es geht nicht nur um Hilfe, Fabian. Es geht um uns. Um unsere Familie. Wir müssen zusammenhalten und ihm zeigen, dass wir für ihn da sind«, entgegnete sie mit Nachdruck.

Die Spannung zwischen den Eltern stieg mit jedem Tag. Silvia versuchte, stark zu bleiben, sowohl für Jonas als auch für ihren Mann, aber die Sorge um die Zukunft ihres Sohnes zehrte an ihr. Abends, wenn sie dachte, dass niemand hinhört, weinte sie leise in ihrem Kissen.

Jonas bemerkte die Veränderung in der Atmosphäre des Hauses. Er fühlte sich hilflos und frustriert, und diese Gefühle verwandelten sich langsam in Verzweiflung. Er wusste, dass er etwas ändern musste, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Familie.

»Lass es gut sein, Jonas«, forderte ihn sein Vater eines Tages gegen Mittag auf. Die beiden befanden sich in Jonas Zimmer. »Ich mach das schon. Das ist doch Quatsch. Wie willst du da hoch? Und wenn du fällst, verletzt du dich wieder.« Jonas starrte ihn grimmig an, raste aggressiv im Rollstuhl zu seinem Vater rüber und entriss ihm Hammer und Nagel. Dann wendete er den Rolli schwungvoll in die Gegenrichtung und ließ sich durch die Drehenergie aus dem Sitz direkt auf das Sofa fallen. Er zog sich an der Rückenlehne hoch und stemmte die Knie dagegen. Nun hielt Jonas den Nagel an die Wand und schlug zwei-, dreimal mit dem Hammer zu. Als er ihn neben sich auf das Sofa fallen gelassen hatte, hielt ihm sein Vater Köcher und Sportbogen entgegen. Jonas starrte seine geliebte Sportausrüstung lange an, nachdem er sie an sich gerissen hatte. Dann steckte er den Bogen neben die Pfeile in den Köcher und hängte ihn am Riemen über den Nagel in der Wand. Als er sich danach langsam auf das Sofa sinken ließ, liefen Jonas Tränen über die Wangen ...

Die Tage verschmolzen zu einer endlosen, grauen Masse für Jonas. Er fühlte sich, als würde er in einem Nebel wandeln, in dem jede Emotion, jede Farbe, jedes Gefühl gedämpft und fern war. Sein Zimmer, das einst ein Ort des Lernens und der Kreativität gewesen war, war nun zu einer Höhle der Isolation geworden. Die Bücherregale, die mit Fachbüchern und Romanen gefüllt waren, die er einst mit Begeisterung verschlungen hatte, standen nun unberührt und verstaubt. Jonas saß stundenlang am Fenster und starrte hinaus in den Garten, ohne wirklich etwas zu sehen. Die Bäume, die Blumen, die Vögel – alles schien ihm fremd und unerreichbar. Sein Spiegelbild in der Fensterscheibe zeigte einen jungen Mann, dessen Augen leer und müde waren. Seine Eltern beobachteten ihn mit wachsender Sorge. Sie versuchten, ihm zu helfen, ihn zu trösten, aber es war, als hätte Jonas eine unsichtbare Mauer um sich gezogen, die niemand durchdringen konnte.

»Frühstück, Jonas«, sagte Silvia eines Morgens, als sie ihm ein Tablett mit Tee, Kuchen und Sandwich ins Zimmer brachte. Sie hatte sich besonders Mühe gegeben und seine Lieblingsspeisen zubereitet, in der Hoffnung, ihn aufzumuntern. Er blickte auf das Tablett und dann wieder weg, ohne ein Wort zu sagen. Silvia setzte sich neben ihn und legte zögernd eine Hand auf seine Schulter.

»Jonas, bitte ... Du musst essen. Du musst stark bleiben«, flehte sie, ihre Stimme brüchig vor Sorge. Jonas sah seine Mutter an, und für einen Moment blitzte etwas in seinen Augen auf – ein Funke von dem alten Jonas, der lebenslustig und neugierig gewesen war. Aber dann senkte er den Kopf und der Funke erlosch. »Ich kann nicht, Mum«, flüsterte er. »Ich kann einfach nicht.«

Die Tage verstrichen, und Jonas zog sich immer weiter zurück. Er verließ kaum noch sein Zimmer und verweigerte jede Art von Hilfe. Sein Vater versuchte, mit ihm zu sprechen, ihn zu ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber das lehnte er ab.

»Du verstehst es nicht, Dad«, sagte Jonas eines Abends, seine Stimme kalt und abweisend. »Du kannst es nicht verstehen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute ... Es ist wie ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann.« Fabian sah seinen Sohn an, den Schmerz in seinen Augen, und fühlte sich hilflos. »Jonas, ich ... Ich weiß, dass es schwer ist. Aber du musst kämpfen. Für dich, für uns. Wir lieben dich und wollen dir helfen.« Jonas lachte bitter auf. »Hilfe? Es gibt keine Hilfe für mich, Dad. Es ist vorbei.«

Die Atmosphäre im Haus wurde immer bedrückender. Silvia und Fabian fühlten sich machtlos angesichts der Dunkelheit, die ihren Sohn zu verschlingen schien. Sie sprachen oft miteinander, suchten nach Wegen, um Jonas zu helfen, aber es schien, als würde er sich immer weiter von ihnen entfernen. Die Tage waren schwer und die Nächte noch schwerer. Sie waren fest entschlossen, ihren Sohn nicht im Stich zu lassen und begannen nach Wegen zu suchen, um Jonas aus der Dunkelheit zu ziehen, die ihn umgab. Sie lasen Bücher über psychische Gesundheit, konsultierten Fachleute und suchten nach Ressourcen, die ihnen helfen könnten, Jonas zu unterstützen. Eines Abends, nachdem Jonas sich wieder einmal in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, saßen Silvia und Fabian im Wohnzimmer zusammen und sprachen leise miteinander. »Wir müssen etwas tun, Fabian«, sagte Silvia mit fester Stimme, obwohl ihre Augen müde und besorgt waren. »Wir können nicht einfach zusehen, wie unser Sohn sich selbst verliert.« Fabian nickte, seine Hand fest um den Arm seiner Frau geschlossen. »Ich weiß, Silvia. Aber was können wir tun? Er lässt niemanden an sich heran.« Sie stand auf und begann, im Raum hin und her zu gehen, ihre Gedanken zu ordnen. »Wir müssen ihm zeigen, dass er nicht allein ist. Dass wir hier sind, um ihn zu unterstützen, egal was passiert. Vielleicht ... Vielleicht könnten wir ihm helfen, wieder einen Sinn im Leben zu finden.«

In den darauffolgenden Tagen begannen die beiden, kleine Veränderungen im Haus vorzunehmen. Sie schufen einen warmen, einladenden Raum, in dem Jonas sich wohlfühlen konnte. Sie brachten Farbe in sein Zimmer, hängten Bilder auf und stellten Pflanzen auf die Fensterbank. Sie spielten sanfte Musik und kochten seine Lieblingsgerichte in der Hoffnung, seine Sinne zu wecken und ihn an die schönen Dinge im Leben zu erinnern. Sie versuchten auch, Jonas in ihre täglichen Aktivitäten einzubeziehen. Silvia bat ihn oft, ihr in der Küche zu helfen oder gemeinsam einen Spaziergang im nahen Stadtpark zu machen. Fabian versuchte, Jonas für kleine Heimwerkerprojekte zu begeistern, etwas, das sie früher immer zusammen gemacht hatten.

»Einen Versuch ist es wert, Jonas«, sagte Fabian eines Tages, als er Jonas ein kleines Holzmodell eines Flugzeugs zeigte. »Erinnerst du dich, wie wir diese früher zusammengebaut haben? Es könnte Spaß machen.«

Jonas, der anfangs zögerlich war, ließ sich schließlich überreden und begann, sich langsam zu öffnen. Die gemeinsame Zeit mit seinen Eltern und das Gefühl, etwas zu erschaffen und zu erreichen, begannen, die Dunkelheit in seinem Inneren zu vertreiben. Die Eltern ermutigten ihn auch, über seine Gefühle zu sprechen, und sorgten dafür, dass er wusste, dass sie immer für ihn da waren.

»Es ist in Ordnung, nicht in Ordnung zu sein, Jonas«, sagte Silvia eines Abends, als sie zusammen im Wohnzimmer saßen. »Aber du musst wissen, dass du nicht allein bist. Wir sind hier, um dich zu unterstützen, und wir werden gemeinsam einen Weg finden, durch diese schwere Zeit zu kommen.«

Nachdem er lange Zeit seine Emotionen unterdrückt hatte, fand Jonas nun Trost in den Worten seiner Mutter. Er begann, sich zu öffnen, über seine Ängste und Sorgen zu sprechen, und fand in seinen Eltern jene Stütze, die er so dringend benötigte.

Die Tage wurden heller, und obwohl der Weg zur Heilung noch lang und voller Herausforderungen war, fand Jonas in der Liebe und Unterstützung seiner Eltern die Kraft, weiterzumachen.

4.

 »Bitte mach du die Tür auf, Jonas.«, rief Silvia ihrem Sohn zu, als der Summer an der Wohnungstür laut schrillte. Sie trat aus der Küche und grinste ihn breit an, als er sich im Rollstuhl durch das viel zu schmale Vorzimmer an ihr vorbei schob. Er war etwas erstaunt. Normalerweise waren seine Eltern immer rascher an der Wohnungstür als er. Ihn interessierte ja eigentlich auch absolut nicht, was sich denn so außerhalb seines eigenen Zimmers abspielte. Mit vergrämtem Blick sah er zu seiner Mutter hoch, bremste den Rollstuhl mit den Sohlen seiner Hausschuhe ab und öffnete die Tür. Als er nun auf eine riesengroße, farbige Zielscheibe starrte, die auf einem Rollstuhl zu sitzen schien, war Jonas verblüfft. Sitzen deshalb, weil da zwar Beine in Jeans zu sehen waren, aber sonst nichts. Keine Arme, kein Kopf. Nur die riesige Zielscheibe, breiter und höher als die Tür.

»Guten Tag. Wohnt hier ein gewisser Jonas Miller?«, drang eine tiefe Stimme hinter der Scheibe hervor. Jonas blickte ratlos über die Schulter zurück zu seiner Mutter. Sie lächelte noch immer. Dann wandte er sich wieder nach vorne und sagte verwirrt: »Ja, das bin ich. Warum? Was soll das?«

»Also Mister Miller, sie müssen ein Rätsel lösen. Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?«

Selbstverständlich kannte Jonas den Witz und warf etwas aufgeheitert unmittelbar: »Esel Esel« als Antwort zurück.

»Richtig Mister Miller. Volltreffer. Sie haben den ersten Preis gewonnen. Und nun überreicht ihnen der Bürgermeister von Wesel diese Trophäe.« Dann tauchten links und rechts der Zielscheibe zwei Hände auf, rollten sie zusammen und Cornelius streckte ihm die Rolle entgegen. »Moin Jonas, alter Junge«, sagte er mit seiner normalen Stimme. »Was ist los? Willst du mich hier im Flur einparken? Oder muss ich dir erst erklären, wie die Kaffeemaschine funktioniert?«

Verblüfft realisierte Jonas, wer da vor ihm im Rollstuhl saß. Und sofort schoss ihm auch durch den Kopf, was seinem ehemaligen Bogensport-Trainer Cornelius damals passiert war.

Bereits kurz nachdem er sich mit seinem schweren Motorrad in die lang gezogene Rechtskurve gelegt hatte, schoss Cornelius blitzartig der Adrenalinspiegel hoch. Ihm wurde sofort klar, dass er nun zu Sturz kommen würde. Er raste über eine frische Ölspur, die sich durch die ganze Kurve zog. Die Räder rutschten zur Seite weg und das Motorrad kippte im Flug nach rechts. Cornelius erkannte instinktiv die Gefahr und versuchte noch, sich während des Sturzes vom Bike abzustoßen. Er prallte dann mit voller Wucht auf den Asphalt und schlitterte neben dem Motorrad quer über den Straßenrand der Gegenfahrbahn hinweg auf den Waldrand zu. Fünf Monate später verließ er die Kölner Reha-Klinik im Rollstuhl. Mit im Gepäck die Diagnose der Querschnittlähmung.

Nun rollte Cornelius mit seinem Rollstuhl in Jonas Zimmer, das von Dunkelheit und Stille beherrscht wurde. Die Vorhänge waren zugezogen, und das einzige Licht, das den Raum erhellte, kam von dem Computerbildschirm, zu dem Jonas apathisch hinstarrte, nachdem er sich von seinem Rollstuhl auf die Bettkante geschoben hatte.

»Hey, Jonas!«, rief Cornelius mit einer Energie, die den Raum sofort zu beleben schien. Er fuhr zu Jonas und drehte seinen Rollstuhl, so dass er ihm direkt gegenüber saß. Seine Augen funkelten vor Entschlossenheit. »Genug ist genug, mein Freund. Es ist Zeit, aus diesem Loch herauszukommen.«

Jonas sah ihn müde an, aber Cornelius’ Präsenz schien irgendwie ansteckend. Er konnte nicht anders, als zuzuhören.

»Hör zu, Jonas«, fuhr Cornelius mit fester und überzeugender Stimmlage fort. »Ich weiß, dass dir das Leben übel mitgespielt hat. Aber das hat es bei mir auch. Und schau mich an! Ich sitze hier, lebendig und kämpfend. Du hast Glasknochen. Ja. Aber du hast auch einen Verstand, der schärfer ist als ein Diamant und einen Willen, der Berge versetzen kann.«

Jonas’ Augen flackerten bei diesen Worten, aber er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dasselbe, Cornelius. Du weißt nicht, wie es ist, jeden Tag Schmerzen zu haben, jeden Tag zu wissen, dass es nur schlimmer wird.«

Cornelius nickte verständnisvoll, aber seine Entschlossenheit ließ nicht nach. »Du hast recht, Jonas. Ich weiß nicht genau, wie du dich fühlst. Aber ich weiß, wie es ist, alles zu verlieren, was einem wichtig ist. Ich weiß, wie es ist, sich hilflos und hoffnungslos zu fühlen. Aber ich habe auch gelernt, dass es immer einen Weg gibt, wieder aufzustehen.« Jonas sah ihn skeptisch an. Mit trüben Augen. Resignation, die ihn seit Monaten gefangen hielt. »Wie soll ich das machen, Cornelius? Ich kann nicht einmal mehr laufen, geschweige denn mein Leben zurückgewinnen.«

Cornelius lächelte und lehnte sich vor, seine Augen fest auf Jonas gerichtet. „Jonas, es geht nicht darum, was du nicht kannst. Es geht darum, was du kannst. Du kannst schreiben, du kannst lernen, du kannst die Welt verändern. Aber dazu musst du aufhören, dich selbst zu bemitleiden.«

Er griff nach Jonas Hand und sah ihm tief in die Augen. »Du bist nicht allein, Jonas. Wir sind hier, um dich zu unterstützen. Aber du musst auch für dich selbst kämpfen. Du kannst so viel mehr sein, als du dir vorstellst. Du kannst Berge versetzen, Jonas. Aber dazu musst du erst einmal aufstehen und kämpfen.«

Dann staunte ihm Jonas fassungslos entgegen. Cornelius hatte ihn an beiden Armen gefasst und sich selbst mit immenser Kraft aus dem Rollstuhl hochgezogen. Nun stand er mit wackeligen Beinen vor Jonas, der sich anstrengte, mit beiden Armen Cornelius in Balance zu halten. Die beiden standen sich nun mit geringem Abstand direkt gegenüber und blickten sich tief in die Augen.

„Jonas, wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren.“

Da spürte Jonas intensiv, wie ihn die Worte von Cornelius tief durchdrangen, wie sie die Dunkelheit in seinem Inneren aufbrachen und Licht hereinließen. Er spürte eine Welle von Emotionen, die er lange unterdrückt hatte, und Tränen stiegen ihm in die Augen.

»Ich ... Ich weiß nicht wie … «, stammelte Jonas, aber Cornelius lächelte nur, während er sich wieder langsam in den Rollstuhl niederließ.

»Du fängst einfach an, Jonas. Einen Schritt nach dem anderen. Du bist stärker, als du denkst. Und ich bin hier, um dir zu helfen, das zu sehen.«

In diesem Moment fühlte Jonas etwas, das er lange nicht mehr gespürt hatte: Hoffnung. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Cornelius an, eine neue Entschlossenheit in seinem Blick.

»Okay«, sagte er leise. »Okay, ich werde es versuchen.«

Cornelius lächelte breit und klopfte ihm auf die Schulter. »Das ist der Geist, Jonas. Du wirst sehen, es gibt so viel mehr, was du tun kannst. Und ich werde hier sein, um dich zu unterstützen, jeden Schritt auf dem Weg.«

Die Dunkelheit in Jonas’ Zimmer schien sich im Laufe der Zeit aufzulösen, als ob Cornelius’ Worte alle Schatten vertrieben hätten. Jonas fühlte sich leichter, als ob eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden wäre. Er wusste, dass der Weg vor ihm nicht einfach sein würde, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich bereit, ihn zu beschreiten. Die Tage nach Cornelius’ Besuch waren für ihn wie ein Wirbelwind der Veränderung. Er fühlte sich, als hätte jemand einen Schalter in ihm umgelegt, und plötzlich war die Welt nicht mehr nur ein Ort des Schmerzes und der Verzweiflung. Es war, als hätte er eine neue Linse bekommen, durch die er die Welt betrachtete, und er war entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Jonas saß vor seinem Computer. Als er Profile auf verschiedenen Social-Media-Plattformen erstellte, flogen seine Finger über die Tastatur, Er hatte eine Idee, eine Vision. Und er war entschlossen, sie Wirklichkeit werden zu lassen.

»Okay, Jonas«, murmelte er leise vor sich hin, während er sich auf Facebook einloggte. »Du kannst das. Du kannst Menschen erreichen, du kannst einen Unterschied zur Vergangenheit machen.« Er erstellte eine Gruppe namens »Bogenschießen für alle« und begann, Beiträge zu verfassen, in denen er seine Erfahrungen und Tipps teilte. Er sprach über die Herausforderungen, die er als Person mit einer Behinderung beim Bogenschießen erlebt hatte und wie der Sport ihm geholfen hatte, Selbstvertrauen und Stärke zu finden. »Es ist nicht nur ein Sport«, tippte er leidenschaftlich. »Es ist eine Kunst, eine Disziplin, die dir beibringt, dich selbst zu überwinden. Und jeder kann es tun, egal welche Hindernisse im Weg stehen.« Er pausierte und las seine Worte noch einmal durch, ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Ja, das ist gut«, murmelte er vor sich hin und klickte auf »Posten«.

Als nächstes erstellte Jonas eine weitere Gruppe, diesmal für Menschen, die an der Glasknochenkrankheit leiden. Er nannte sie »Stärke der Zerbrechlichkeit« und begann, Beiträge zu verfassen, in denen er seine eigenen Erfahrungen teilte und Ressourcen für andere bereitstellte. »Wir sind nicht allein«, schrieb er. »Wir sind stark, wir sind widerstandsfähig, und wir können ein erfülltes Leben führen. Hier können wir uns austauschen, unterstützen und voneinander lernen.« Während er schrieb, fühlte Jonas eine Welle von Emotionen. Er dachte an die dunklen Tage, die er durchgemacht hatte und wie er sich so oft allein und verloren gefühlt hatte. Aber jetzt, da er diese Gruppen erstellte, fühlte er sich verbunden und lebendig.

»Ich mache einen Unterschied«, sagte er leise zu sich selbst, seine Augen glänzend. »Ich kann anderen helfen, so wie Cornelius mir geholfen hat. Ich kann meine Geschichte nutzen, um andere zu inspirieren.« Er arbeitete stundenlang, erstellte weitere Gruppen, vernetzte sich mit anderen und teilte seine Geschichte. Er fühlte sich, als hätte er endlich einen Zweck gefunden, etwas, das ihn erfüllte und ihm Freude bereitete. »Das ist erst der Anfang«, murmelte er, während er sich zurücklehnte und auf den Bildschirm starrte, der nun mit seinen Beiträgen, Gruppen und Nachrichten gefüllt war. »Ich habe noch so viel vor mir. Aber ich bin bereit. Ich bin mehr als bereit.« Sein Herz fühlte sich leicht an, und er konnte nicht anders, als zu lächeln. Er hatte das Gefühl, dass er endlich wieder auf dem richtigen Weg war, und er war entschlossen, jeden Moment davon zu nutzen.

Jonas verbrachte viele Nächte in tiefen Gedanken versunken. Er dachte über sein Leben nach, über die Hindernisse, die er überwunden hatte, und über die, die noch vor ihm lagen. Er begann, sich Fragen zu stellen, die er zuvor vermieden hatte. »Was will ich wirklich vom Leben?«, murmelte er vor sich hin. »Was bedeutet Glück für mich?«

Er dachte an die Worte von Cornelius, an seine unerschütterliche Positivität trotz seiner eigenen Herausforderungen. Jonas begann, sich selbst in einem neuen Licht zu sehen. Er erkannte, dass er nicht nur ein Opfer seiner Umstände war, sondern auch ein Kämpfer, ein Überlebender. »Ich habe so viel durchgemacht«, sagte er leise zu sich selbst, während er im Dunkeln in seinem Zimmer saß. »Aber ich bin immer noch hier. Ich habe immer noch eine Chance, etwas aus meinem Leben zu machen.« Er begann, Tagebuch zu schreiben, seine Gedanken und Gefühle festzuhalten. Er reflektierte über seine Ängste, seine Hoffnungen und seine Träume. Er erkannte, dass er eine Wahl hatte: Er konnte sich von seiner Krankheit definieren lassen oder er konnte sich selbst definieren.

5.

»Wir könnten wirklich etwas bewirken, Cornelius«, sagte Jonas eines Tages, als die beiden in seinem Wohnzimmer saßen. »Wir könnten unsere Stimmen nutzen, um anderen zu helfen.« Cornelius nickte. »Ja, ich denke auch. Aber wie machen wir das? Wie erreichen wir die Menschen?«

Sie diskutierten stundenlang, wogen verschiedene Ideen ab und planten sorgfältig. Schließlich kamen sie auf die Idee, einen Social-Media-Kanal zu starten. Sie wollten nicht nur ihre eigenen Geschichten teilen, sondern auch eine Plattform für andere schaffen. »Stell dir vor, wie viele Menschen wir erreichen könnten«, sagte Jonas begeistert. »Wir könnten eine Gemeinschaft aufbauen, eine Unterstützungsgruppe.«

»Herzlich willkommen bei Köln TV«, begann die Moderatorin, als die Kameras zu laufen begannen. »Heute haben wir zwei ganz besondere Gäste bei uns: Jonas und Cornelius, die Gründer von ›Resilient Duo‹. Erzählen Sie uns, wie alles begann.« Jonas lächelte und begann: »Nun, es begann alles mit einer Freundschaft. Cornelius und ich haben beide unsere eigenen Kämpfe, aber wir haben uns gefunden und beschlossen, unsere Erfahrungen zu teilen …« Das Interview entwickelte sich zu einem tiefgehenden Gespräch. Sie sprachen über ihre Herausforderungen, ihre Hoffnungen und wie sie durch ihre Freundschaft wieder zur persönlichen, wiederaufbauenden Kraft fanden.

Jonas und Cornelius entschieden sich, ihr Unternehmen in einer kleinen Bürofläche in Köln zu gründen. Sie nannten es ›AdaptiTech‹. Die Software, die sie entwickelten, war revolutionär: Sie ermöglichte es Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Computer und Smartphones nur mit der Stimme und Augenbewegungen zu steuern. ›AdaptiTech‹ war intuitiv gestaltet, mit einer benutzerfreundlichen Oberfläche und einer Reihe von Funktionen, die speziell auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnitten waren. Sie entwickelten Partnerschaften mit Reha-Zentren und Krankenhäusern und vertrieben ihre Software sowohl online als auch durch spezialisierte Einzelhändler. Die Software wurde schnell zu einem Erfolg, und „AdaptiTech“ wuchs rasant. Jonas und Cornelius waren stolz darauf, dass sie nicht nur ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hatten, sondern auch dazu beitragen konnten, das Leben vieler Menschen zu verbessern.

6.

Die Jahre vergingen, und Jonas’ Leben hatte sich dramatisch verändert. Trotz seiner Glasknochenkrankheit, die ihn ständig herausforderte, war er nicht mehr der junge Mann, der sich in seinem Zimmer versteckte, erfüllt von Selbstmitleid und Verzweiflung. Er war nun ein Unternehmer, ein Mentor, ein Freund. Sein Leben war erfüllt von Sinn und Zweck. Jonas und Cornelius hatten eine Gemeinschaft von Menschen aufgebaut, die sich gegenseitig unterstützten und ermutigten, einschließlich vieler, die ebenfalls mit körperlichen Herausforderungen lebten. Ihre Social-Media-Kanäle waren zu einem globalen Ort des Austausches und der Inspiration geworden. Menschen aus der ganzen Welt teilten ihre Geschichten, ihre Erfahrungen und ihre Triumphe.

Eines Tages erhielt Jonas einen Brief von einer Universität, die ihm eine Ehrendoktorwürde für seine Arbeit und seinen Beitrag zur Gesellschaft anbieten wollte. Er war überwältigt. Er hatte nie gedacht, dass sein Leben trotz seiner Glasknochenkrankheit eine solche Wendung nehmen würde.

Jonas saß alleine in seinem Büro und blickte auf die vielen Auszeichnungen und Fotos an der Wand. Bilder von ihm und Cornelius, von den Menschen, denen sie geholfen hatten, von seiner Familie. Er dachte an die dunklen Tage zurück, an die Zeiten, in denen er keinen Ausweg sah und seine Krankheit als unüberwindbares Hindernis empfand. Und er erkannte, wie weit er gekommen war.

An einem klaren Abend versammelten sich Jonas, Cornelius und deren Freunde und Familien zu einer kleinen Feier. Es war eine Feier des Lebens, der Freundschaft und der Überwindung von Widrigkeiten, einschließlich Jonas Kampf mit der Glasknochenkrankheit. Es wurde gelacht, Geschichten wurden erzählt, und die Atmosphäre war von Liebe und Akzeptanz erfüllt. Als die Nacht hereinbrach, erhob sich Jonas und blickte in die Runde. »Ich möchte euch allen danken«, begann er. »Ihr habt mir gezeigt, dass das Leben trotz aller Herausforderungen lebenswert ist. Ihr habt mir gezeigt, dass wir alle unsere eigenen Kämpfe haben, aber zusammen sind wir stark.« Er machte eine Pause und blickte über die Fensterfront hoch in den klaren Sternenhimmel. Mit gedämpfter Stimme sprach er sich selbst zu. »Ich habe gelernt, dass das Leben nicht darum geht, was uns passiert, sondern wie wir darauf reagieren. Und ich habe gelernt, dass, egal wie dunkel die Tage auch sein mögen und wie zerbrechlich wir uns fühlen, es immer Hoffnung gibt.« Dann wandte er sich wieder um, hob sein Glas und die Menge verstummte. »Auf das Leben«, meinte er mit einem breiten Lächeln. »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren.« Dann holte er tief Luft, sah in die Runde und rief lautstark in bestimmter und überzeugter Tonlage: »Jonas lebt!«

0 comments
Report article

Our algorithm thinks, these articles are relevant: