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Das Bild fängt den berührenden Moment ein, in dem eine Schneeflocke auf der Zunge eines Kindes in Kopenhagen landet. Es zeigt eine zauberhafte, verschneite Stadtstraße, die mit der Wärme der Straßenlaternen und der Freude spielender Kinder beleuchtet wird, und vermittelt ein Gefühl der Erfüllung und des friedvollen Endes.

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Philosophie der Schneeflocken

Von: Martin Krefta und Tom Nentwich

Als die Tage wieder kürzer wurden und die Morgen dunkler, frischte gegen Mittag ein eisiger Wind auf, und dunkle Wolken schoben sich in den noch herbstlichen Himmel. Auf den Bergen begann es zu schneien, vereinzelt und undicht.

»Ich will nicht schmelzen!«, wisperte eine Schneeflocke der anderen zu.

»Was jammerst du und redest schon von deinem Ende?«, fragte die andere verwundert. »Wir fallen doch erst. Noch liegt uns die ganze Welt zu Füßen. Diese wunderbare, große, runde Welt! Genieße das Sinken, das Schweben, den Wind, der uns hierhin oder dorthin trägt. Es ist aufregend, nicht zu wissen, wohin die Reise geht. Hast du nicht Herzklopfen wie ich?«

»Nein, ich habe kein Herzklopfen. Schneeflocken haben kein Herz. Sie sind kalt und schneien. Was soll daran aufregend sein? In einen Schornstein werde ich fallen, auf ein schlecht isoliertes Hausdach, auf eine noch warme Herbstwiese. Dort werde ich augenblicklich zum Tropfen. Meine Schönheit, die es kein zweites Mal gibt, wird vergessen sein, noch bevor sie gesehen und bestaunt wurde.«

»Du bist gar nicht voreingenommen!«, lachte nun die andere auf. »Ist nicht jede von uns ein einzigartiger Kristall, den es so nie mehr am Firmament gibt? Diese verschwenderische Einzigartigkeit macht uns auch wieder gleich. Findest du nicht? Du musst philosophisch denken.«

»Philosophieren ist Luxus, fahrlässige Zeitverschwendung.«, entgegnete die missmutige Schneeflocke und maulte unentwegt vor sich hin. »Wenn ich wenigstens die Gewissheit hätte, der Arktis entgegenzufallen, könnte ich vielleicht diesen traurigen, mühsamen Weg zur Erde genießen, wie du sagst. Jedenfalls sind die Chancen, nackt in der Arktis zu überleben, für unsereins höher als sonst wo. Wenn ich es nur schwarz auf weiß hätte! Da würde ich dann auf dem unberührten, grenzenlosen Schelfeis liegen ohne Horizont. Wenn ich nur Gewissheit hätte! Meine zarten Sternenarme blieben unversehrt von Luftdruck und Temperatur. Ich könnte mich meines Lebens, wer weiß, einige Minuten lang erfreuen. Mein so jämmerlich flüchtiges Dasein auskosten. Natürlich würden mich solche Egoisten wie du, sofort zu Tausenden, ja zu Abermillionen zudecken, weil ihr meine Anmut nicht ertragen könnt. Oder die Hintertatze eines Eisbären würde mich erdrücken, der Motorschlitten eines Polarforschers platt wälzen. Der warme Urinstrahl eines Inuk-Bengels würde mich auf der Stelle erledigen. Wie soll man da philosophisch denken, wenn man nur die Sinnlosigkeit des eigenen Daseins vor Augen hat?«

So meckerte die Schneeflocke unentwegt den ganzen langen Weg während des Niedersinkens auf die Erde. Nicht einmal schwieg Sie und genoss einen Augenblick ihres kurzen Lebens. Sie wollte gerade über die Unverfrorenheit der thermischen Winde schimpfen, denen es gefällt, die Symmetrie der Kristalle zu zerstören, da fiel sie in der Stadt Kopenhagen auf die ausgestreckte Zunge eines Kindes und schmolz.

»Was für ein wunderbarer Tod, in einem Kindermund zu vergehen!«, hauchte die andere Schneeflocke, ehe sie auf den warmen Asphalt der Stadt sank und dahinschmolz.

Artikel veröffentlicht am 30. Juni 2023 auf https://martinkrefta.de/2023/06/philosophie-der-schneeflocken

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