Vom Doktoranden zum Magieaspiranten
Ich heiße Arne Harder. Kurz nach der Geburt wurde ich blind und lernte die Blindenschrift (Brailleschrift). Im Gymnasium lernte ich Maschineschreiben sowie Druck- und Schreibschrift von Hand zu notieren.
Meine Schwerpunkte im Psychologiestudium waren die Methodenlehre und die Psychoanalyse. Auch Philosophie und Archäologie habe ich studiert.
ich habe als Forscher und Dozent in den Bereichen der Blindenpsychologie und der medizinischen Psychologie gearbeitet. Auch zur Kunstrezeption durch die Tastsinne habe ich publiziert.
Derzeit bin ich frei als Schriftsteller unter dem Pseudonym: „Willi Wildtwuchs“ tätig. Mein Steckenpferd sind Parodien auf Dinge, die mich brennend interessieren. Ein Autor, den ich parodiere, kann das als Kompliment auffassen.
Kapitel 1 Vom Doktoranden zum Magieaspiranten
Wieder saß ich am PC und klickerte mich durch die Job-Angebote der Arbeitsagentur. Für HARTZ IV musste ich Bemühungen nachweisen. Nach hundert Bewerbungsrückläufern tat ich meinen „Job“ nur noch, um Ruhe zu haben. Die Sprachausgabe blubberte irgendwas von Drogentests. Meine Gedanken aber schweiften ab, zum 21.Dezember vor zwei Jahren:
Ich hatte eine Arbeit über das ästhetische Erleben durch die Tastsinne verfasst. Das Literaturverzeichnis hatte es mit 333 Quellen in sich, und die Arbeit war nicht nur wissenschaftlich korrekt, sondern auch spannend zu lesen.
Zwei Jahre benötigte ich zum Schaffen der Voraussetzungen: Thema bestimmen, Finanzmittel akquirieren, einen Grundstock an Literatur zum Thema bearbeiten, vor allem die Suche nach Doktormüttern und -vätern. Endlich hatte ich vier Personen gefunden, die meine Promotion betreuten; alle höchst anerkannt in ihren Fachgebieten: Frau Prof. Irmgard Leise, Pädagogin mit den Spezialgebieten Ästhetische Erziehung und inklusive Bildung, Prof. Mario Grahmbring, Papst der Blindenpsychologie, Prof. Reinhold G. Silbernagel, Persönlichkeitstheoretiker und Entwicklungspsychologe, und schließlich Prof. Helmut Degenhardt, Dekan des Fachbereichs Philosophie mit den Spezialgebieten Antike und Mittelalter.
Die Stiftung: „Inclusio“ aus Liechtenstein hatte mir € 25000 Forschungsgelder bewilligt und 25 Monate lang ein Stipendium von € 1500 pro Monat gewährt. Sie hatte die Arbeit auf bestem Papier drucken und binden lassen; das Ergebnis war hervorragend. Auch den Brailleschriftdruck an der Blinden‑Studien‑Anstalt hatte sie finanziert; ich hatte eine Ausgabe erhalten. Es lief besser als in meinen kühnsten Träumen. Ich sah eine glorreiche Zukunft vor mir und erschuf im Geiste mein Institut für Haptik und Blindenpsychologie. Endlich würde sich mit mir ein blinder Mensch maßgeblich an der Forschung mit blinden Personen beteiligen!
Am 21. Dezember ab 14:00 Uhr begann im kleinen Hörsaal das Abschlussverfahren. Nach vier Jahren endete damit der Lebensabschnitt der Promotion, in dem ich geschuftet hatte wie ein Ochse.
Aus den Fachbereichen: Pädagogik, Philosophie und Psychologie waren Studentinnen und Studenten erschienen, dazu, was mich besonders freute, fast die gesamte junge Gemeinde meiner Kirche. 120 Personen verfolgten die Veranstaltung.
Das Abschlussverfahren einer Dissertation enthält die Disputation und das Rigorosum. Die Disputation besteht aus dem öffentlichen Vortrag des Doktoranden über seine Arbeit; darauf stellen die Doktormütter und Väter Fragen zur Doktorarbeit. Das folgende Rigorosum ist eine mündliche Prüfung aus allen Fachdisziplinen der Fakultät, in der man promoviert; in meinem Fall der philosophischen. Schließlich dürfen alle Zuhörenden dem Doktoranden Fragen stellen.
Maximal dauert das Verfahren 90 Minuten. An diesem Tage wurden es 123: Mein Vortrag war mit 25 Minuten zu lang, auch das Rigorosum hatte Überlänge. Am schwersten wog jedoch, dass ich das Publikum zum Diskutieren ermunterte.
„Ästhetisches Erleben mit den Tastsinnen geht uns alle an“, hatte ich gesagt, „wer andere Termine einhalten muss, sei in Gnaden entlassen, aber alle sollen die Gelegenheit haben, etwas beizutragen. Ich will alle ernst nehmen, denn nur so macht die Wissenschaft vom Ästhetischen Fortschritte.“
Die nahende Katastrophe sah jeder kommen, der mich in den zurückliegenden vier Jahren gekannt hatte. Bei all dem Engagement und der Schufterei hatte ich außer Acht gelassen, was meine Rolle in diesem Spiel war: die eines Schülers, der sich mit seinen Doktormüttern und -vätern gut stellen muss, und dessen Ergebnisse in deren Arbeit zu passen haben.
In meiner Dissertation aber war ich zu der donnernden Erkenntnis gelangt, dass die Blindheit das ästhetische Erleben weniger beeinflusst als das Interesse der Rezipierenden an Kunst und am Kunstwerk. Prof. Degenhardt und Prof. Leise hatten meine Absicht gepriesen, die Arbeit allgemeinverständlich zu formulieren und mich aufgefordert, dies mehrfach mit Testpersonen unterschiedlichen Bildungsgrades zu überprüfen. Das hatte den Abschluss verzögert. Ich ging begeistert auf ihre Wünsche ein und schuftete von Morgens früh bis oft genug Mitternacht, denn die anderen beiden verlangten Ergebnisse und setzten darauf, dass diese zur Defizit-Lehre vom blinden Menschen passten. Ich enttäuschte sie in jeder Hinsicht.
Nun hatte ich gewagt, das Verfahren an mich zu reißen und erklärt, wie man Wissenschaft zu betreiben habe. Als Professor hätte ich das meinen Studentinnen und Studenten gegenüber tun dürfen, als Prüfling aber galt für mich: „Quod licet Iovi, non lecet Bovi (Was dem Jupiter (dem obersten Gott der Römer) erlaubt ist, ziemt dem Ochsen nicht).“ Doch im Bemühen, auf alle einzugehen, „übersah“ ich den Unmut der Professoren Grahmbring und Silbernagel.
Mein Vortrag war sachlich korrekt, die Überlänge des Verfahrens hatte ich nicht allein verursacht, und mein Ausbrechen aus der Norm war nicht ungesetzlich. So erhielt ich nach einstündiger Beratung der Prüfungskommission die Note: „summa cum laude (mit höchstem Lob).“
Wie mir später Frau Prof. Leise an einer Bushaltestelle zuflüsterte, hatten die Professoren Grahmbring und Silbernagel erklärt, sie würden bei Nachfragen potentiellen Arbeitgebern von meinem Benehmen berichten, das sie für inakzeptabel hielten. Damit war meine Note nicht das teure Papier wert, auf dem sie stand.
Die vier Jahre meiner Promotion wären für die Forschung gut gewesen, zumal ich zwei wissenschaftliche Artikel veröffentlicht hatte und Erfahrungen in der Akquirierung von Projektgeldern vorweisen konnte. Aber für eine Karriere außerhalb der Forschung war ich zu alt, als dass man mich ohne Vorerfahrung angestellt hätte. Dass ich keine Stelle finden würde, stand felsenfest.
Nachdem ich den Schwur geleistet hatte, mit der Wissenschaft stets das Beste der Menscheit zu suchen, kam die Reihe der Gratulanten. Als erster klopfte mir Prof. Degenhardt auf die Schulter und verkündete laut: „Ihren Mut in der Disputation hätte ich nicht gehabt. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen alles Gute.“ Er schenkte mir sein Buch, das heute erschienen war: „Neue Erkenntnisse zu den Gedanken Neros für das Imperium Romanum“. Seine Sekretärin, Irmgard Müller, hatte es auf CD gesprochen, die in einer Hülle unter dem Buchdeckel klebte. Gerührt nahm ich Prof. Degenhardt und Frau Müller in die Arme.
„Da gehöre ich hin“, rief Marte, die Frau, die ich durchs Vordiplom geschleust hatte, und die sich nun noch eine Woche frei nahm, bevor es in die Prüfungsvorbereitungen zum Diplom ging, „Ich habe Dich, Deine Hilfsbereitschaft, Deine Intelligenz und Deinen Mut immer bewundert. Heute gehöre ich ganz Dir.“
Dieses Angebot konnte ich nicht ablehnen. Kaum war die Gratulationsrunde um und ein Schlückchen vom Sekt getrunken, den ein Freund mitgebracht hatte, lozte Marte mich durch die Herumstehenden, verfiel, als wir durch waren, in Laufschritt, erreichte ihre kleine Ente, und wir rasten in meine recht hübsch eingerichtete Sozialbauwohnung. Schnell zogen wir einander die Kleider von den Leibern, dann gab es nur noch Haut — und Lust. Meine Buffetuhr schlug sieben, als wir aufs Bett fielen, und sechsmal, bevor ich vollkommen glücklich und ermattet in ihren Armen einschlief.
Sie schlug zehn, als ich wach wurde und der Rest meines Bettes leer war, wenn auch noch warm. Dort, wo ihr Kopf hätte sein sollen, lag ein großer Zettel, den sie mit jener Tafel in Blindenschrift beschrieben hatte, die ich ihr zum bestandenen Vordiplom geschenkt hatte. Der Brief lautete:
Willi, das war Ekstase! Diese Nacht werde ich nie vergessen!
Aber keine Romanzen ohne Finanzen. Ich kann nicht mit einem Mann zusammenleben, den ich versorgen muss, wenn ich selbst nicht weiß, wie es nach dem Studium für mich weitergeht.
Bitte lass mich aus Deinem Leben gehen, bevor es für uns unerträglich wird.
Marte
Ich fiel nach hinten um und schlug mit dem Kopf auf das Schafsfell vor meinem Bett. Wäre ich auf den harten Steinboden gekracht, wer weiß, ob ich dieses Buch hätte schreiben können.
Niemand mochte ich aus Scham von meinem Herzeleid erzählen. Mit jeder Bewerbung, die ich mit dem üblichen Absageschreiben zurückbekam, vertiefte sich mein Grahm. An der Arbeitsagentur erläuterte mir der zuständige Sachbearbeiter kopfschüttelnd: „Wer als Blinder ohne berufliche Absicherung promoviert, begräbt seine Karriere.“
Meine Ersparnisse gingen aus; ich beantragte Hartz IV. Ein halbes Jahr lebte ich von der Hand in den Mund; das Blindengeld reichte für die Miete.
Vor einem Monat hatte man mir die ausstehenden Gelder seit Antragstellung überwiesen. Ich zahlte in der Kneipe die Schuld von € 175,00, lud den ganzen Saal zu Essen und Trinken ein und soff selbst vier Ginnes und zwei Weizenbier, bis ich, um € 700 erleichtert, schweren Schrittes nach Hause schwankte.
Doch meine berufliche Perspektivlosigkeit hätte ich in Würde tragen können. Eines machte mich völlig fertig: Einsamkeit! Einsamkeit!! Einsamkeit!!!
Wieder einmal hatte mich das Selbstmitleid fest im Griff. Mein Psychotherapeut aber, den ich seit einem halben Jahr wöchentlich besuchte, hatte mit mir eine Strategie erarbeitet, die mich aus den Klauen der Depression so weit befreite, dass ich meinen Alltag zu bestehen in der Lage war. Danach fragte ich mich, ob ich das nicht schon oft erlebt hätte und ließ die Langeweile zu, bis ich mir sagen konnte: "Das will ich nicht."
Was tun? — Der plappernden Sprachausgabe Aufmerksamkeit widmen?
Glücklicher Weise erregte ein Satz meine Neugier: „Hinweis: Es kann lediglich bestätigt werden, dass eine echte Person unter den angegebenen Kontaktdaten erreichbar ist.“
Bei dieser Einleitung handelte es sich meist um ein „Windei“. Mir aber war nach dem „Bad“ im Selbstmitleid nach „Windigem“. Also hörte ich zu:
Stellennummer: 75/WR14-05 Versicherungspflichtige Arbeit
Arbeitgeber: Gemeinnützige Gesellschaft (gg) Entenpreis, Norddorf auf Amrum
Befristete Stelle:/n: 1 ½ Stellen, zu besetzen mit einer Person
Zeitraum der Befristung:60 Monate
Dienstzeit: 60 Stunden pro Woche
Arbeitsort: Weltraum, Raumschiff Entenpreis
Arbeitszweck: Erkundung des Weltraums von Terra bis Sirius
Stelle/n als: Diplompsychologe/Diplompsychologin
Aufgaben: Motivation, Krisenintervention; Erfassung der Intelligenz jener Lebensformen, die auf der Reise gefunden werden
Gehalt: TVÖD, Gehaltsgruppe 2a für 1 ½ Stellen
Zusatzvergütung: Die gg Entenpreis gewährt einen monatlichen Mietzuschuss von € 500,00 und im Todesfall für einen zu benennenden Hinterbliebenen einen Nachlasszuschus von € 20000
Voraussetzungen: Abgeschlossenes Diplom der Psychologie; Grad der Behinderung: 100
Erwünscht: Erfahren in: Forschung, Krisenintervention, Testen von Personen mit besonderen Bedürfnissen, Tierpsychologie
Interessen: Ethnologie, Geschichte, Philosophie und Religion
Hinweis: Alle Infrage kommenden durchlaufen ein Assessment
Kontaktaufnahme: per E-Mail mit den üblichen Anlagen als Anhängen:
ggentenpreis@amrum.deFür Nachfragen und zur Interessenbekundung: …
Ich hatte das Telefon ergriffen und die Nummer gewählt. — Warum? — Vernünftig war das nicht, klang doch die ganze Sache wie ein Aprilscherz, wenn auch der Monat nicht stimmte — es war der 12. Mai, zwei Tage vor meinem Geburtstag.
„Klarsehn“, rief eine mir sympathische Männerstimme in etwas rauem Ton. Der so sprach, mochte jener Kapitän John Klarsehn sein, dessen Telefonnummer angegeben stand. Zumindest war er lautes Rufen gewöhnt.
„Wildtwuchs, mein Name. Ich habe ihre Stellenanzeige im Web mit der Sprachausgabe angehört und interessiere mich dafür. Ich bin seit meiner Geburt blind, promovierter Diplompsychologe und interessiere mich für Geschichte, Philosophie und Religion. Nur mit der Krisenintervention habe …“
Herr Klarsehn unterbrach: „Kommen Sie Morgen um 12:00 Uhr nach Kiel in den Jütlandring 23. Da finden unsere Eingangstests statt. Ich hab' Ihre Doktorarbeit in der Stadtbibliothek in Kiel gelesen und fand die riesig interessant.“
„Was soll ich mitbringen?“ „Alle Bewerbungsunterlagen im Original und Ihren Mietvertrag. Die Sachen bleiben bei uns, Frau Meier sorgt dafür, dass die 500 Euro zu Ihrem Vermieter kommen, wenn wir Sie nehmen. Bringen Sie außerdem: 4mal Unterwäsche, eine kurze Sporthose, eine lange Hose, zwei kurze und zwei lange Hemden, einen Wintermantel, ein Paar Wanderstiefel, ein Paar dicke Socken und ein Kilo Sachen, die Ihnen Freude machen, mit.“
„Was meinen Sie mit dem Kilo Sachen, die mir Freude machen?“ „Einer von uns hat die Bibel und die Ars Amatoria mitgenommen, ein anderer seine Blockflöte und eine Konga. Das soll was sein, was Ihnen Spaß macht und nicht verderblich ist. Wir werden fünf Jahre zusammen sein, und da braucht man ein Bisschen Spaß. Wollen Sie kommen? Schreiben Sie uns per Mail, wann und auf welchem Gleis Sie eintreffen, dann holt der erste Offizier, Frau Inge Selgen, Sie ab.“
„Ich danke Ihnen und werde Morgen pünktlich erscheinen!“ So leidenschaftlich hatte ich mich noch nie zustimmen hören. Offensichtlich hatte ich hier eine wirkliche Chance.
Angeregt durch dieses Gespräch suchte ich nach einem geeigneten Zug, und dann tat ich etwas, das ich so intensiv lange nicht getan hatte: Ich wienerte und putzte die Wohnung, von allen Decken bis zu allen Böden. Ich fuhr zum Bahnhof, besorgte die Karte, schrieb die Mail an die gg Entenpreis und ging in die Kneipe, um etwas zu essen und zu trinken. Um 10:00 Uhr ging ich nach Haus und schlief sofort ein.
Rechtzeitig trat ich die Reise an und erreichte pünktlich den Hauptbahnhof Kiel. „Doktor Wildtwuchs?“, eine schöne Frauenstimme schallte mir entgegen. „Ja, der bin ich“, antwortete ich, „und Sie sind Frau Selgen.“
„Darf ich Ihnen den Arm anbieten?“, fragte sie. Sie führte mich zu ihrer Ente, und es ging zum Jütlandring 23, einem unauffälligen Reihenhaus.
Mit Handschlag begrüßten mich fröhlich acht Leute, vier Damen und vier Herren. Die Atmosphäre roch nach einem Spiel, keineswegs nach einem Bewerbungsverfahren mit standardisierten, auf die Arbeitsstelle zugeschnittenen Testverfahren, das Psychologen: „Assessmentcenter” nennen.
Kapitän Klarsehn, der mich als letzter begrüßte, griff mich mit beiden Händen unterm Hintern und stemmte mich in die Luft. Natürlich war ich überrumpelt und erschrocken. Dann aber entschloss ich mich, es humorvoll zu nehmen. Der Kerl war bärenstark: ich wog 111 kg, und das zur Streckung zu bringen, nötigte mir Respekt ab.
Uiuiuiuiuiuiui“, sang ich in seinen zitternden Armen und platzierte meine Füße auf seinen Schultern. Wer zu Karneval im Fernsehen: „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ sieht, kennt diesen Tusch, den als Zeichen des Lobes das Publikum anstimmt. „Auauauauau!“ Alle fielen mit dem zweiten Teil des Tuschs ein. Viele Hände ergriffen mich, man stellte mich sanft auf den Boden.
„Immer rein in die gute Stube“, sprach der Kapitän, „da erklären Sie man das Wichtigste von Ihrer Doktorarbeit. Herr Holzhauer muss das verstehen.“ Der hatte sich vorgestellt, als „Mann mit Lernschwierigkeiten und Mädchen für alles; natürlich bin ich kein Mädchen“, hatte er gesagt.
Meine Doktorarbeit in Leichter Sprache erklären: Sicher gehörte das zum Assessmentcenter. Meist fängt man mit leichten Aufgaben an. "Wenn das die leichte Aufgabe war", dachte ich, "wie sind dann die schwierigen?"
„Darf ich einen Augenblick nachdenken“, fragte ich. „Solange Sie brauchen“, antwortete Kapitän Klarsehn.
Was war von meiner Arbeit wichtig und ließ sich in einfache Worte kleiden? — Drei Dinge: 1. Jeder Mensch kann mit den Tastsinnen die Schönheit und die Kraft von Kunst erleben. 2. Blinde können das genauso gut wie Sehende. 3. Was man erlebt, hängt vom Interesse an der Kunst ab.
Gefühlt war eine Minute verstrichen, als ich begann, den Raum zu erkunden; Inge erzählte mir später, es seien kaum fünf Sekunden gewesen. Ich suchte nach etwas Ertastbarem, das ästhetische Erlebnisse zu generieren in der Lage war, etwa ein Kunstwerk aus Marmor oder Holz.
Auf dem Bücherregal über der Stereoanlage stand die Replikation eines bekannten römischen Marmorkunstwerkes: Sie zeigt einen Bären und einen Wildschweineber im Kampf; der Bär steht halb über dem Eber. Beide Tiere sind vollplastisch gearbeitet, in allen erdenklichen Details. Ich selbst habe das marmorne Original im Museum von Trier angefasst und war gewaltig von der Kraft beeindruckt, die der unterliegende Eber ebenso ausstrahlte wie der siegende Bär. Hier stand dessen verkleinerter Nachbau; der Maßstab betrug etwa 1 : 5. Er bestand aus einer festen, sehr leichten Pappe. Im Gegensatz zum Original strahlte diese Replikation Wärme aus, die nach meinem Eindruck den Tieren geradezu Leben einhauchte.
„Herr Holzhauer, darf ich Ihnen die Augen verbinden?“, begann ich. „Warum?”“ fragte er. „In meiner Doktorarbeit geht es um Erleben von Kunstwerken durch Anfühlen. Da stört das Sehen bloß.“
„Dann hol ich mir ein Handtuch“, sagte Herr Holzhauer. Kapitän Klarsehn verband Herrn Holzhauers Augen, und wir führten ihn zur Figur von Bär und Eber.
Sanft drehte ich ihn mit dem Gesicht zum Regal und führte seine Hände zum Kunstwerk. „Herr Holzhauer, fühlen Sie das Kunstwerk mal ab. Sagen Sie mir, was Sie erkennen.“
„Das sind Bär und Eber“, sprach er nach einer Weile, „die hab ich hier schon gesehen.“
„Stimmt! Und jetzt“, fragte ich, „wo Sie das anfühlen, fällt Ihnen etwas auf?“ „Mann!“, rief er aus, „Die beiden kämpfen und sind so stark! Das krieg ich jetzt beim Anfühlen mit!“
„Prima, Herr Holzhauer! Jetzt wollen wir zusammen darüber nachdenken, was Sie gerade tun. Sie können das Handtuch abnehmen.“
„Nee“, antwortete er, „dann guck ich bloß überall hin und kann nicht richtig denken.“ „Sehr gut, Herr Holzhauer“, begann ich den abstrakten Teil. Doch ich war zuversichtlich, ihm das Wichtigste verständlich zu machen.
„Sie haben gesagt: Der Bär und der Eber sind stark, und das ist ihnen beim anfühlen klar geworden.“ „Ja.“
„Das ist ein ästhetisches Erlebnis: Sie haben die Kraft im Kunstwerk beim Tasten erlebt und uns davon erzählt.“
„Dann bin ich gerade ästhetisch“, sprach Herr Holzhauer.
„Ja“, antwortete ich, „Sie gehen völlig im Erleben des Kunstwerkes auf! Also sind Sie ästhetisch. Sie sind ästhetisch und tasten. Tasten können auch blinde Menschen.“
„Das ist doch normal“, antwortete Herr Holzhauer.
„Also können Blinde genau so wie Sehende Kunst erleben, ästhetisch sein, wie Sie sagen.“ „Na klar!“
„Herr Holzhauer, was meinen Sie“, kam ich zum Schluss, „wann werden Blinde oder Sehende beim Anfühlen von Kunstwerken ästhetisch?“
„Wenn sie wollen“, antwortete er.
„Das habe ich in meiner Doktorarbeit auch geschrieben. Aber“, setzte ich noch einen drauf, „viele Professoren sagen heute immer noch: Blinde können nicht sehen. Dadurch fehlen ihnen die meisten Informationen. Der Rest reicht oft nicht zum Ästhetisch werden.“
„Die sind voll doof“, rief Herr Holzhauer aus. Ungewollt traten mir Tränen in die Augen.
„Uiuiuiuiuiuiui!“, sang Kapitän Klarsehn, „Auauauauau“, fielen alle anderen ein.
„Frau Schlemil führt Sie jetzt nach oben zum PC. Machen Sie unseren mathematischen Test mit“, sagte Kapitän Klarsehn.
"Mathe! Für eine Weltraumfahrt!! Da falle ich bestimmt durch!!!" So dachte ich. Geknickt folgte ich Frau Schlemil, treppauf ins Arbeitszimmer und setzte mich an den PC. „Eine Sprachausgabe ist drauf, und bei Bedarf lese ich Ihnen vor“, sagte sie, „Sie haben drei Stunden.“
Die Aufgabe lautete: „Berechnen Sie die optimal einwirkende Kraft und Flugbahn, die Sie benötigen, um den vor Ihnen liegenden Faustkeil über das Dach des Hauses hinweg genau vor dessen Eingang landen zu lassen. Sie können dazu die Wurfdaten von 1000 Personen und die Wetterdaten der letzten zehn Jahre benutzen.“
"Das war’s", dachte ich. Zur Berechnung optimaler Flugbahnen brauchte man höhere Mathematik, worin ich eine absolute Niete war.
„Näher doch das Problem statistisch an“, flüsterte eine Stimme von oben, die klang wie die einer sprechenden Krähe.
Frau Schlemil hatte mir den Tipp nicht gegeben, doch der war gut. Also frisch ans Werk.
Ich programmierte; ein Statistikprogramm, das ich gut kannte, war auf dem PC aufgespielt. Nach fast drei Stunden war meine Annäherung fertig. Frau Schlemil programmierte mit dem PC einen Roboter.
Ich aber wollte auf Teufel komm raus wissen, wer mir den Hinweis gegeben hatte. Wieder einmal befingerte ich alles, was ich erreichen konnte. Ich stellte mich sogar auf den Drehstuhl, um die Decke abzutasten, ein waghalsiges Unterfangen, denn das Ding rollte und drehte sich.
Da oben hing etwas! Ein merkwürdiges Wesen. Ich griff mit beiden Händen zu und riss es von der Decke, in die es sich mit Klauen festgehängt hatte.
„ÖÖÖi, Du tust mir weh!“
„Frau Schlemil!“
„Ich bin fast fertig. Gleich wirft der Roboter den Faustkeil auf Ihrer Flugbahn mit Ihrer berechneten Kraft“, antwortete sie.
„Was ist das“, fuhr ich auf, „und kann der oder das etwa sprechen?“
„Klar”, sprach das Wesen. Jetzt hielt ich es in Händen und untersuchte es vorsichtig: Es war etwa 30 cm lang von der Schwanzspitze bis zur Schnabelspitze. Hätte es einen Mund mit Zähnen gehabt, würde ich das Wesen als Fledermaus bezeichnet haben, doch es hatte einen Schnabel und zwei kurze, menschenähnliche Arme mit Händen. Wo bei uns Beine sind, hatte es fast am Leib ansetzende Füße mit drei scharfgekrallten Zehen vorn und einer hinten, gegenüber den anderen. Mit diesen Krallen hatte es sich an der Decke eingehakt und mit dem Kopf nach unten gehangen. An den Schultern setzten Flügel an, die gefiedert waren. Den Rest des Körpers bis zum Schnabel bedeckte Flaum; Federflaum oder Fell, dass wusste ich nicht. Schließlich hatte es große, löffelförmige Ohren, die aufrecht standen und stark vibrierten.
„Bitte entschuldigen Sie“, erwiderte ich, „dass ich Ihnen weh getan habe. Hoffentlich habe ich Sie nicht verletzt. Wie heißen Sie denn?“ Offensichtlich verdiente dieses Wesen menschlichen Respekt.
„Schon gut“, sprach es; der Schnabel, den ich mit den Fingern sanft ertastete, bewegte sich dabei. Nun stand es fest: Dieses Wesen hatte mir den Tip gegeben.
„Seit wann siezen wir uns? Ich komme vom großen Mond des Planeten im Siriussystem und heiße …“ Es folgte ein kurzes Knacken, „Du bist Willi, nicht wahr? für Euch nenne ich mich Ufal.“
In diesem Augenblick fuhr der Roboter seinen Greifer aus, packte den Faustkeil und warf diesen durchs geöffnete Fenster. Gleich darauf hörte man es an der Eingangstür klirren; der Keil war in eine der Türscheiben gekracht und hatte diese zerschlagen.
„Uiuiuiuiuiuiui!“ Stampfend kam die ganze Horde die Stufen herauf und sang weiter – Frau Schlemil fiel ein: “Auauauauau!“
„Herr Klarsehn, bitte entschuldigen Sie! Natürlich bezahle ich den Schaden!“
„Macht die Versicherung“, antwortete er, während die anderem ihm folgten, „So eine gute Annäherung hat keiner erreicht. Dr. Wildtwuchs, Sie haben alle Tests mit Glanz und Gloria bestanden und sind von nun an Mitglied unserer Crew. Darauf trinken wir Brüder- und Schwesternschaft. Aber erstmal gib’ts was zu essen, und dann geht’s zum Raumschiff.“ „Jetzt schon?“ „Ja“, sagte Frau Schlemil, „am 14. Mai um 0:00 Uhr haben wir den besten Startpunkt auf dem Weg zum Sirius.“
„Hört mir mal zu“, Ufal hatte gesprochen. Es wurde still. „Willi muss Zaubern lernen. Ich spüre viel Magie in ihm.“
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